Städte fallen, Panzer brennen – Putins Krieg zieht weiter in den Süden
Der nächste Konvoi, der in Rauch aufgeht – die Ukraine hat wieder zugeschlagen. Im Süden des Landes wird erbittert um jeden einzelnen Panzer gerungen.
Saporischschja – Die bange Frage lautet: Was machen die Russen jetzt? Awdijiwka ist das aktuelle Opfer des Ukraine-Krieges, aber welchen Weg schlägt Wladimir Putin jetzt ein? Wenn die Eroberung dieser eher unbedeutenden Kleinstadt die russische Kraft erschöpft hat, wie es in Bachmut der Fall gewesen war, bekommen die Ukrainer vielleicht eine Gelegenheit, sich zu sammeln und ihre Kräfte neu zu gruppieren. Immerhin setzt die Ukraine gegen Russland nimmermüde Nadelstiche – wie Newsweek berichtet: Danach haben offenbar ukrainische Drohnen nahe Saporischschja einen Konvoi mit 18 gepanzerten Fahrzeugen zerstört – darunter sollen drei Kampfpanzer gewesen sein. Ein Video davon geht viral – das Video stammt aus offiziellen Quellen, enthält aber keine überprüfbaren Angaben.
Darüber hinaus gab die ukrainische Armee bekannt, in der Region Saporischschja einen größeren Luftangriff der russischen Armee zurückgeschlagen zu haben. Die ukrainische Luftwaffe erklärte: Von 14 Drohnen und zehn Raketen, die russische Streitkräfte in der Nacht auf Ziele in dieser Region der Ukraine gestartet hatten, seien zwölf Drohnen und eine Rakete abgefangen worden. Laut ukrainischen Medien seien mindestens zwei Menschen in Kramatorsk und Slowjansk getötet worden.
Möglicherweise konzentriert sich Russland jetzt auf die Rückeroberung von Gebieten im Süden: Die Führung des ukrainischen Militärs sagte kürzlich gegenüber Newsweek, es habe mehr als ein Dutzend Angriffe auf seine Stellungen rund um das Saporischschja-Dorf Robotyne abgewehrt. Das Royal United Services Institute für Verteidigungs- und Sicherheitsstudien (RUSI) geht davon aus, Russland verfolge weiterhin sein strategisches Ziel, die Ukraine vollständig zu unterwerfen und ist nach der Eroberung Awdijiwkas vom Sieg überzeugt.
Robotyne: Russland ist wieder in der Vorwärtsbewegung
Das russische Verteidigungsministerium gab jetzt bekannt, dass es 70 ukrainische Soldaten und einen Schützenpanzer entlang des Frontabschnitts, der Robotyne und das nahegelegene Dorf Verbove umfasst, abgeschossen habe. Newsweek berichtet weiterhin über Erkenntnisse des US-amerikanischen Thinktanks Institute for the Study of War (ISW), russische Streitkräfte rückten im Westen von Saporischschja vor und eroberten eine Stellung südlich von Robotyne zurück. Mehrere russische Militärblogger hätten gleichzeitig über einen neuen Offensivstoß Moskaus rund um das Dorf berichtet und darüber, dass die Streitkräfte des Kreml „diese Siedlung aktiv stürmten“, wie das ISW berichtet.
Die Ukraine hatte Ende August im Rahmen ihrer Gegenoffensive im Sommer 2023 die Kontrolle über Robotyne gewonnen – das greifbarste Ergebnis ihrer Gegenoffensive.
Zu den Kapitulationsbedingungen, die derzeit von russischen Vermittlern vorgeschlagen werden, gehört die Abtretung des bereits unter russischer Kontrolle stehenden Territoriums durch die Ukraine zusammen mit Charkiw und in einigen Gebieten um Odessa. Russland verlangt außerdem den Verzicht der Ukraine, der Nato beizutreten und ein Staatsoberhaupt von Russlands Gnaden einzusetzen. Offenbar lässt Russland im Gegenzug den Rest der Ukraine in die Europäische Union.
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Awdijiwka: Meilenstein auf Putins Feldzug
Die Unvereinbarkeit der Positionen beider Kontrahenten ist Konsens in der Wissenschaft, wie auch der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer dem Magazin Cicero erläutert hat: Russland fehle der Wille, die Krim und die vier weiteren Gebiete in der Ostukraine an die Ukraine zurückzugeben; die Ukraine wolle diese Gebiete aber unbedingt zurückhaben. „Wenn man also über die Beziehungen der Ukraine zum Westen und über den Territorialstreit zwischen Kiew und Moskau spricht, erkennt man sehr schnell, dass es keine Möglichkeit gibt, die unterschiedlichen Ansichten miteinander in Einklang zu bringen und ein sinnvolles Friedensabkommen zur schließen“, sagt er – eine düstere Prognose.
Russland verlor in den ersten Wochen des Angriffs auf Awdijiwka eine beträchtliche Anzahl gepanzerter Fahrzeuge, und westliche Analysten vermuteten, dass die Moskauer Streitkräfte dort auf Infanterie-Angriffe umgestiegen seien, um ihr Panzermaterial zu schonen – möglicherweise tatsächlich ein handfestes Ergebnis der ukrainischen Verzögerungstaktik. „Die ukrainischen Verteidiger fügten dem Feind enorme Verluste zu und zerstörten eine bedeutende Reserve der russischen Besatzer, die sie in anderen Bereichen der Front für Offensivaktionen einsetzen wollten“, sagte gegenüber Newsweek Brigadegeneral Oleksandr Tarnavskyi. Tarnavskyi ist der Kommandeur der ukrainischen Truppengruppe Tavria, die in Awdijiwka gekämpft hat. In diesem Licht betrachtet, scheint jeder Verlust Russlands an Menschen oder Material der Ukraine Luft zu verschaffen.
Der Westen: Ukraine hängt am Tropf der Nato-Länder
Allerdings nur unter Vorbehalt: Der britische Geheimdienst vermutet, Russlands Industrie sei in der Lage, jeden Monat allein mindestens 100 Kampfpanzer zu produzieren – von der Luftwaffe und der Marine ganz abgesehen. Damit werden die derzeitigen Verluste kompensiert. Denn den Russen sei es im Vergleich zum ersten Kriegsjahr 2022 gelungen, ihre Verluste an Panzern deutlich zu reduzieren, so die Briten auf X (vormals Twitter). Ihre hoffnungsarme Schlussfolgerung lautet laut dem Stern: Die jüngsten Offensiven hätten den Russen zwar nur geringe Gewinne am Boden eingebracht, aber sie können „dieses Niveau an offensiven Tätigkeiten in der vorhersehbaren Zukunft weiter fortsetzen“.
Was wiederum die Westmächte enorm unter Zugzwang setzt: Die russische Zielstrebigkeit setzt auf das Vertrauen in das Zaudern der westlichen Länder, die Ukraine stärker als bisher zu versorgen – was Jack Watling vom RUSI zu der These verleitet. „Wenn die Partner der Ukraine deren Armee weiterhin ausreichend Munition und Ausbildungsunterstützung zur Verfügung stellen, um die russischen Angriffe im Jahr 2024 abzuschwächen, ist es unwahrscheinlich, dass Russland im Jahr 2025 nennenswerte Erfolge erzielen wird. Wenn Russland aufgrund seiner Unfähigkeit, die Qualität der Streitkräfte für Offensivoperationen zu verbessern, keine Aussicht auf Erfolge im Jahr 2025 sieht, bedeutet dies, dass es Schwierigkeiten haben wird, Kiew bis 2026 zur Kapitulation zu zwingen.“
Watling glaubt: Nach 2026 werde die gegenseitige Zermürbung damit enden, dass Russlands Kampfkraft erloschen sei. (Karsten Hinzmann)