Sieg mit horrenden Verlusten – in zwei Jahren könnte Russlands Kampfkraft erloschen sein

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Sieg mit horrenden Verlusten – in zwei Jahren könnte Russlands Kampfkraft erloschen sein

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Alles umsonst: Ein ukrainischer Soldat in Awdijiwka. Die Stadt ist nach schweren Kämpfen in russische Hände gefallen. © Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Noch 24 Monate Leiden in der Ukraine, dann sollte Russlands Feuer erloschen sein – glauben politische Analysten. Der Fall Awdijiwkas: Nebensache.

Awdijiwka – Die Wissenschaft ist sich einig: Im Ukraine-Krieg ist kein Ende in Sicht. Vorerst. „Der Kampf werde noch lange vor sich hin simmern“, sagte beispielsweise zuletzt der deutsche Militärhistoriker Sönke Neitzel und bemühte das Bild eines köchelnden Topfes auf kleiner Flamme. Allerdings flammt der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine noch lichterloh in der Stadt Awdijiwka – Wladimir Putin hat die Stadt jetzt erobert. Offenbar zu einem erschreckend hohen Preis.

Die Kämpfe rund um Awdijiwka in der annektierten östlichen Region Donezk der Ukraine brachten der Stadt den Beinamen „Fleischwolf“ ein, ein Begriff für Schlachtfelder, die hohe Opferzahlen fordern und erhebliche Ressourcen wie gepanzerte Fahrzeuge verbrauchen – das berichtet jetzt Newsweek über die Kämpfe dort. Für die Süddeutsche Zeitung ist der Fall klar: Die Eroberung von Awdijiwka sei für Moskau der größte militärische Erfolg seit der Einnahme von Bachmut im Mai 2023 – und Folge dramatischer Überlegenheit an Soldaten, Artilleriegranaten und erstmals auch in der Luft. Ein bedeutender militärischer Sieg sieht allerdings anders aus, eine entscheidende Niederlage aber auch.

Noch ist in der Ukraine keine Entscheidung von großer Tragweite gefallen. Allerdings zeigt sie, dass die langfristige Strategie von Wladimir Putins Invasionsarmee inzwischen verfängt: den Feind aufgrund hoher zahlenmäßiger Überlegenheit einfach niederzuwalzen. Am Beispiel Awdijiwka erklärte der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala im Hamburger Abendblatt, dass die Ukraine sich dafür entschieden hatte, Awdijiwka so lange wie möglich zu halten, damit Putins Truppen weitestgehend ausbluten. Immerhin hatten die Russen verbissen um die Stadt gekämpft, ohne dass ihr große taktische Bedeutung beigemessen wird – sie steht als Symbol für das gegenseitige Kräftemessen und besitzt aktuell keinen bedeutenden militärischen Wert, weder für die Sieger noch für die Besiegten.

Der Fall Awdijiwkas: Meilenstein für Putins Pläne in der Ukraine

Allerdings misst die Süddeutsche Zeitung der Stadt einen hohen strategischen Wert bei: wegen seiner Straßen ebenso wie als Eisenbahnknotenpunkt. Ukrainischen Schätzungen zufolge setzte Moskau für die Eroberung der Stadt deshalb rund 40.000 Soldaten ein. Moskau könnte sich nun zum Vorrücken auf die 40 Kilometer westlich von Awdijiwka liegende Stadt Pokrowsk oder auch nach Nordwesten auf die zentrale Garnisonsstadt Kramatorsk entschließen. Weiter nördlich ist etwa die Stadt Kupjansk ein ebenso mögliches Ziel einer russischen Offensive.

Das Royal United Services Institute für Verteidigungs- und Sicherheitsstudien (RUSI) geht davon aus, dass Awdijiwka ein bedeutender Meilenstein für Wladimir Putin ist, wie deren Autor Jack Watling schreibt. Russland verfolge weiterhin sein strategisches Ziel, die Ukraine vollständig zu unterwerfen und ist nach der Eroberung Awdijiwkas vom Sieg überzeugt. Zu den Kapitulationsbedingungen, die derzeit von russischen Vermittlern vorgeschlagen werden, gehört die Abtretung des bereits unter russischer Kontrolle stehenden Territoriums durch die Ukraine zusammen mit Charkiw und in einigen Gebieten um Odessa. Russland verlangt außerdem den Verzicht der Ukraine, der Nato beizutreten und ein Staatsoberhaupt von Russlands Gnaden einzusetzen. Offenbar lässt Russland im Gegenzug den Rest der Ukraine in die Europäische Union.

Düstere Prognose: Russland und die Ukraine stehen sich unversöhnlich gegenüber

Die Unvereinbarkeit der Positionen beider Kontrahenten ist Konsens in der Wissenschaft, wie auch der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer dem Magazin Cicero erläutert hat: Russland fehle der Wille, die Krim und die vier weiteren Gebiete in der Ostukraine an die Ukraine zurückzugeben; die Ukraine wolle diese Gebiete aber unbedingt zurückhaben. „Wenn man also über die Beziehungen der Ukraine zum Westen und über den Territorialstreit zwischen Kiew und Moskau spricht, erkennt man sehr schnell, dass es keine Möglichkeit gibt, die unterschiedlichen Ansichten miteinander in Einklang zu bringen und ein sinnvolles Friedensabkommen zur schließen“, sagt er – eine düstere Prognose.

Die russische Truppe hat zudem rund um Awdijiwka zwar erhebliche Verluste erlitten, legt aber dennoch an Größe zu, analysiert das RUSI: Auch bei erbitterter Gegenwehr der Verteidiger weiß Russland damit seine Frontlinie zu halten. Watling: „Einheiten können im Allgemeinen aus der Linie rotiert werden, sobald sie bis zu einem Drittel ihrer Kräfte verloren haben, sie also als wirkungslos angesehen werden. Während derzeit keine Großoffensive stattfindet, sind die russischen Einheiten damit beauftragt, kleinere taktische Angriffe durchzuführen, die der Ukraine mindestens dauerhafte Verluste zufügen und es den russischen Streitkräften ermöglichen, Stellungen einzunehmen, zu halten, Kräfte nachzuführen und die alte Sollstärke wieder zur erreichen.“ 

Soldaten ohne Ende: Putin will 1,5 Millionen Mann unter Waffen bringen

Ihm zufolge erkläre diese Tatsache den Umstand, dass Russland den permanenten Druck auf die Stadt Awdijiwka so lange und letztendlich erfolgreich aufrechterhalten konnte. Watling rechnet weiterhin mit einem konstanten Zufluss an Soldaten: Obwohl das russische Militär seinem Ziel hinterherlaufe, seine Stärke auf 1,5 Millionen Soldaten zu erhöhen, scheinen sie ihrer angestrebten Größe auf immerhin 85 Prozent nahe gekommen zu sein, behauptet Watling. Der Kreml geht ihm zufolge davon aus, dass er diesen Rekrutierungs-Grad bis 2025 aufrechterhalten könne.

Das Institute for the Study of War (ISW) betrachtet als entscheidenden Faktor für den Sieg bei Awdijiwka, dass Russland die Lufthoheit zurückerobert hatte, also erstmals in den zwei Kriegsjahren Erfolg hatte, mit Kampfjets und Hubschraubern Überlegenheit in der Luft herzustellen und vor dem Vorrücken seiner Truppen auch gut befestigte ukrainische Stellungen sturmreif zu schießen. Die Verluste der russischen Flugzeugbesatzungen insgesamt berechnet das RUSI mit 159 Soldaten, was angesichts der Ungleichmäßigkeit der Flugstunden innerhalb der russischen Staffeln als schwerwiegender Kompetenzverlust zu betrachten sei. Dennoch könnten die russischen Luft- und Raumfahrtstreitkräfte weiterhin mit Abstandsmunition wie Gleitbomben verheerende Verluste unter den ukrainischen Kräften verursachen. 

Nachdem Russland im Oktober 2023 auf Awdijiwka anzurennen begonnen hatte, verdichteten sich von Tag zu Tag Hinweise, dass dem gegenüber den Verteidigern offenbar Soldaten, Munition, Drohnen und Flugabwehrsysteme ausgingen. Panzer, die in der ukrainischen Gegenoffensive im Herbst 2022 noch 120 Granaten täglich hätten verschießen können, verfügten schon Ende 2023 nur noch über höchstens 20; laut dem Kyiv Independent berichten Artilleristen aktuell, statt 40 Granaten könnten sie nur noch eine abfeuern.

Armada wie zu Sowjetzeiten: Ukraine verhindert Aufbau einer russischen Panzerarmee

Die Fakten über die Produktionskompetenz der russischen Rüstungsindustrie sind rar, die Spekulationen um so wilder, beispielsweise was den Neubau von Panzern betrifft: Erst im März vergangenen Jahres kündigte Putin die Produktion von 1.600 neuen Panzern an. Wichtiger aber für die westlichen Beobachter: Viele ihrer alten T-80-Panzer modernisiert Russland gerade. „Daraus lassen sich mehrere wichtige Schlussfolgerungen ziehen, wie zum Beispiel: Aufgrund des Krieges mit der Ukraine ist die russische Produktion derzeit nicht in der Lage, den Bedarf an Panzern für die russische Armee zu decken“, behaupten bulgarische Militärbeobachter. Laut den Bulgaren versucht Russland auf Biegen und Brechen zum sowjetischen Konzept einer Flotte von vielen Tausend Panzern zurückzukehren. Dass sich Russland um Awdijiwka herum so immense Verluste geleistet hat, legt nahe, dass die ukrainischen Verteidiger Russlands Aufbau einer dem Sowjetreich ähnelnden Streitmacht wirkungsvoll torpedieren können.

Was wiederum die Westmächte enorm unter Zugzwang setzt: Die russische Zielstrebigkeit setzt auf das Vertrauen in das Zaudern der westlichen Länder, die Ukraine stärker als bisher zu versorgen – was Jack Watling vom RUSI zu der These verleitet. „Wenn die Partner der Ukraine deren Armee weiterhin ausreichend Munition und Ausbildungsunterstützung zur Verfügung stellen, um die russischen Angriffe im Jahr 2024 abzuschwächen, ist es unwahrscheinlich, dass Russland im Jahr 2025 nennenswerte Erfolge erzielen wird. Wenn Russland aufgrund seiner Unfähigkeit die Qualität der Streitkräfte für Offensivoperationen zu verbessern, keine Aussicht auf Erfolge im Jahr 2025 sieht, bedeutet dies, dass es Schwierigkeiten haben wird, Kiew bis 2026 zur Kapitulation zu zwingen.“

Watling glaubt: Nach 2026 werde die gegenseitige Zermürbung damit enden, dass Russlands Kampfkraft erloschen sei. (Karsten Hinzmann)

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