Trauer um den Holocaust-Überlebenden Marian Turski: „Seid nicht gleichgültig, wenn ihr historische Lügen seht“
Marian Turski überlebte die Shoah und war Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. Jetzt ist der polnische Journalist im Alter von 98 Jahren gestorben. Unser Nachruf:
Nun, da Marian Turski mit 98 Jahren in Warschau gestorben ist, wird man in den Nachrufen wieder das elfte Gebot lesen. „Du sollst nicht gleichgültig sein“, hatte der Überlebende der Shoah einst Roman Kent zitiert, seinen Vorgänger als Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees.
Die Fähigkeit, treffende Worte zu finden, waren charakteristisch für diesen Mann, der 1926 in Litauen geboren wurde. Es ist daher wichtig, nochmals nachzulesen, wie Turski jenes griffige Zitat weiterdachte: „Seid nicht gleichgültig, wenn ihr historische Lügen seht“, appellierte er an uns Nachgeborene. „Seid nicht gleichgültig, wenn ihr seht, dass die Vergangenheit für aktuelle politische Zwecke missbraucht wird. Seid nicht gleichgültig, wenn irgendeine Minderheit diskriminiert wird. Das Wesen der Demokratie besteht darin, dass die Mehrheit regiert. Doch die Demokratie besteht darin, dass die Rechte von Minderheiten geschützt werden müssen. Seid nicht gleichgültig, wenn irgendeine Regierung gegen bereits existierende, gebräuchliche gesellschaftliche Verträge verstößt.“ Die Sätze sind fünf Jahre alt und doch zeitlos.
Marian Turski überlebte Auschwitz, Buchenwald und Theresienstadt
Wer gleichgültig sei, laufe Gefahr, dass auf ihn oder seine Nachfahren „plötzlich irgendein Auschwitz vom Himmel“ stürze. Turski, der als 16-Jähriger mit seiner Familie ins Ghetto Łódz kam und von dort nach Auschwitz deportiert wurde, sprach 2020 anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung dieses KZs – und analysierte die schrittweise Vorbereitung der Shoah: „Auschwitz trippelte, machte kleine Schrittchen, kam näher, bis das geschah, was hier geschehen ist.“
Turski überlebte nicht nur Auschwitz sowie die Todesmärsche, mit denen die Nazis jene Hölle auf Erden „evakuierten“, sondern auch das KZ Buchenwald und Theresienstadt. Als die Rote Armee das Lager am 8. Mai 1945 befreite, war er dem Tod näher als dem Leben.
2020 wurden Marian Turski für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen
Es ist nicht zu viel spekuliert, wenn man sagt, dass Turski sein Davonkommen als Auftrag verstanden hat. Er zog nach Warschau, engagierte sich in der polnischen Arbeiterpartei. Und er wurde Journalist, um zu erklären und aufzuklären. Als Chefredakteur verantwortete er die Zeitung „Sztandar Młodych“, bei „Polityka“ leitete er das Geschichts-Ressort. Die Erinnerung an die Verbrechen und die Verantwortung, die sich daraus für die Gegenwart ergab, prägten auch seine historische Arbeit. Turski war Vorsitzender des Jüdischen Historischen Instituts und Mitbegründer des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau. Bei dessen Eröffnung sagte er: „Den Schatten der Ermordeten möchten wir sagen, wir sind hier.“
2021 wurde Turski Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. Der Zusammenschluss von Auschwitz-Überlebenden und ihren Organisationen aus 19 Ländern hatte ihn im Jahr zuvor als Friedensnobelpreisträger vorgeschlagen. Als sich heuer die Befreiung jenes Ortes zum 80. Mal jährte, an dem ihn die Nazis vernichten wollten, sprach Marian Turski in der Gedenkstätte. Das Thema des 98-Jährigen war auch sein Lebens-Motto: Mut.