„Bayerisches Silicon Valley“: Siemens verlegt Forschungsstandort nach Garching
Siemens verlegt seinen wichtigsten Forschungsstandort von München nach Garching. Der Vorort der Landeshauptstadt wird damit mehr und mehr zum bayerischen Silicon Valley.
Garching - Georg von Wichert entschuldigt sich, als er durch die neuen Siemens-Laboratorien in Garching führt. „Es sieht hier noch etwas aus nach Kraut und Rüben, aber wir sind noch am Einräumen“, sagt der Ingenieur. Der Elektrotechniker hat bisher am Siemens-Standort Neuperlach im äußersten Münchner Südosten geforscht, vor ein paar Tagen ist er gemeinsam mit seiner Abteilung nach Garching im Landkreis München umgezogen.
Zwischen der A9 im Westen und der Isar im Osten liegt der Campus der Technischen Universität München. Auf dem Gelände hat Siemens einen Neubau errichtet, in den kommenden Wochen sollen hier 450 Beschäftigte eine neue Heimat finden. Ein zweites Gebäude ist geplant, 2027 sollen insgesamt 1.000 Beschäftigte im neuen „Siemens Technology Center“ arbeiten. Datenanalyse, Künstliche Intelligenz (KI), Kommunikation zwischen Mensch und Maschine – Siemens hofft auf neue Produkte für seine Kunden aus der Industrie.
Neuperlach ist Geschichte
Noch läuft der Umzug, im neuen Siemens-Labor testet eine Gruppe junger Ingenieure aber schon einen Industrieroboter, der in der Lage sein soll, Einzelteile aus Boxen zu greifen und zu sortieren. Das Besondere: Der Roboter muss nicht umständlich programmiert werden, dank Künstlicher Intelligenz (KI) lässt er sich per Sprachbefehl steuern. „Wir haben zum Spaß einmal ausgerechnet, dass der Roboter mehr Kombinationsmöglichkeiten hat, Bewegungen auszuführen, als es Atome auf der Erde gibt“, sagt Siemens-Forscher Georg von Wichert. Und die Wahrscheinlichkeit, dass Georg von Wichert bald anderen Forschern über den Weg stolpert, ist in Garching verglichen mit Neuperlach ebenfalls um ein Vielfaches höher. Siemens bezieht Büros im ersten und dritten Stock des Gebäudes, im zweiten Stock hat sich eine andere Institution eingenistet: Die Technische Universität München, kurz TUM.

„Zwischen der TUM und Siemens gibt es schon seit vielen Jahren enge Kooperationen, zum Beispiel im Bereich der Robotik“, sagt Alin Albu-Schäffer, Robotik-Professor an der TUM. Alin Albu-Schäffer ist einer von 150 TUM-Wissenschaftlern, die bald in das neue Siemens-Gebäude einziehen werden – ohne Miete zu zahlen, wie ein Sprecher der Uni erläutert: „Der Freistaat Bayern stellte das Grundstück zur Verfügung, der Industriepartner errichtete das Gebäude, im Gegenzug nutzt die TUM die Flächen im Gebäude für 50 Jahre gratis.“
Gemeinsame Konferenzräume & Labore eng beieinander: So leben Siemens und TUM in Nachbarschaft
In der Praxis sieht die Kooperation so aus: Das Erdgeschoss teilen sich TUM und Siemens, es gibt gemeinsame Konferenzräume, Labore in direkter Nachbarschaft, ein Café und etliche Sitzmöglichkeiten, an denen Forscher ihre Laptops aufklappen können. Die Architektur soll den Austausch fördern – auch mit den Nachbarn.
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Direkt neben Siemens hat sich ein weiteres Dax-Schwergewicht niedergelassen: Der Walldorfer Software-Gigant SAP. Ein paar hundert Meter weiter stehen die Max-Planck- und Fraunhofer-Institute. Mit 28.000 Menschen zählt der Forschungscampus in Garching zu den größten Wissenschaftszentren in Europa – und Siemens ist jetzt mittendrin. In Garching sei etwas entstanden, „was einzigartig ist und es so auf der Welt noch nicht gibt“, sagt Siemens-Strategie-Chef Peter Körte (siehe Interview).
In Neuperlach war alles etwas komplizierter: Schon immer gab es TU-Studenten, die bei Siemens ein Praktikum absolvierten, als Werkstudent arbeiteten oder im Konzern ihre Bachelor-, Master- oder Doktorarbeit schrieben. „Nur musste man früher immer mit der U-Bahn von der TU in Garching nach Perlach fahren, jetzt ist alles an einem Ort“, sagt von Wichert.
Vergleich mit Amerikas Super-Standort
Die Konzentration verschiedener Institutionen an einem Ort orientiert sich an einem prominenten Vorbild: das Silicon Valley im US-Bundesstaat Kalifornien. Dort sind um die Jahrtausendwende rund um den Campus der Universität Stanford Technologiekonzerne wie Google oder Yahoo entstanden, die Grenzen zwischen akademischer und industrieller Forschung sind in den Vereinigten Staaten schon lange fließend. „Auch heute läuft in den USA der Transfer zwischen Unternehmen und Universitäten immer noch etwas schneller als in Europa“, sagt Robotik-Professor Alin Albu-Schäffer.
Aber steckt in einer zu großen Nähe zwischen staatlichen Universitäten und privatwirtschaftlichen Unternehmen auch eine Gefahr? In der Bundesrepublik soll Artikel 5 des Grundgesetzes die Freiheit von Forschung und Lehre garantieren. Der Präsident der TU München, Thomas Hofmann, versichert: „Wir arbeiten an der TUM mit hunderten etablierten Unternehmen und Start-ups sehr eng und vertrauensvoll zusammen. Die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre ist dabei nie in Gefahr, denn diese Kooperationen sind selbstbestimmt.“ Nur leider sei es in Deutschland üblich, „irgendwelche Gefahren herbeizufabulieren“ anstatt die Chancen zu sehen. „Die großen Herausforderungen der Menschheit wird kein Unternehmen und keine Universität alleine lösen“, betont er.
Auch Albu-Schäffer glaubt nicht, dass sich die TU-Forschung durch die räumliche Nähe zu sehr auf Siemens fokussiert. „Siemens ist für uns eine von vielen Möglichkeiten, die TU ist in der Forschung keinerlei Verpflichtungen gegenüber Siemens eingegangen.“
Freistaat fördert „Industry on Campus“
Zumal die Kooperation zwischen Privatwirtschaft und staatlichen Universitäten politischer Wille ist, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. 2019 hatte die bayerische Staatsregierung eine Hightech-Agenda mit einem Investitionsvolumen in Höhe von zwei Milliarden Euro beschlossen, die Kooperation von Unis, Firmen und Start-ups ist ausdrückliches Ziel. Zur Zusammenarbeit von Siemens und der TUM sagt Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU): Das Konzept „Industry on Campus“ sei eine „kluge Strategie“. Wissenschaftspolitik sei immer auch Wirtschafts- und Standortpolitik.
Auch die Gewerkschaften begrüßen die Entwicklung: „Grundsätzlich befürworten wir, dass Siemens in Garching investiert“, sagt Kai Winkler, Siemens-Beauftragter der IG Metall München. Auch die strategische Kooperation von Siemens mit der Technischen Universität sei „hochspannend“, ergänzt er. „Hier geht es um eine Zukunftsinvestition, von der der gesamte Technologiestandort München profitieren dürfte.“
Heute will Siemens sein „Technology Center“ in Garching offiziell eröffnen. Gehen die Pläne der Manager auf, könnten die Technologien, die hier entstehen, die industrielle Produktion schon in wenigen Jahren revolutionieren.