Alle drei Jahre wird das „Forstliche Gutachten zur Situation der Waldverjüngung“ erstellt. Dabei schauen sich Förster an, ob nachwachsende Bäume gedeihen können oder verbissen sind, was ein Indiz für zu hohen Wildbestand ist. Wir waren nahe Oberhausen dabei.
Oberhausen – Neugierig schaut Alwin Schnabel auf den Boden. Gerade hat Försterin Silke Hartmann ihm einen kleinen Tannensprössling gezeigt, ein „Tännele“, wie sie in ihrem unnachahmlichen schwäbischen Dialekt freudig berichtet. Schnabel bückt sich, schaut nochmal genau hin – tatsächlich: Ein ebenso winziges wie seltenes Tannenbäumchen kämpft sich durch das hohe, alte Gras, das sich dort breitgemacht hat. „Faszinierend, was man alles auf dem Boden entdeckt“, sagt der 30-Jährige.
Er sucht am Boden normalerweise andere Spuren, nämlich die von Wild. Schnabel ist Berufsjäger und angestellt bei Christoph Pöppinghaus. Um 1400 Hektar Jagdreviere im Bereich Huglfing, Oberhausen und Ammerhöfe muss sich Schnabel kümmern, ab und zu mit bis zu fünf Helfern. Natürlich spielt der Wald dabei eine wichtige Rolle. Aber normalerweise ist Schnabel nicht in gebückter Haltung auf der Suche nach besonderen Baumarten.
Wenn viele kleine Bäume vom Wild verbissen sind, ist das ein Indiz für zu hohen Wildbestand
Das ist an diesem Tag anders. Er hat an diesem sonnigen Vormittag Besuch von Hartmann und ihrer Kollegin Annika Abele. Sie erstellen im Auftrag des Freistaats das „Forstliche Gutachten zur Situation der Waldverjüngung“, wie es offiziell heißt. Gerne abgekürzt als Vegetationsgutachten oder sogar Verbissgutachten.
Denn darum geht es: Nach einem streng vorgegebenem Raster schauen Hartmann und ihre Kollegen bayernweit in den Wäldern, wie gut Bäume natürlich nachwachsen. Wenn viele kleine Bäume vom Wild verbissen sind, ist das ein Indiz für zu hohen Wildbestand. Das ist schlecht für den Grund- und Waldbesitzer (Jagdgenosse), denn ein zum Beispiel am Leittrieb verbissener Baum wächst deutlich schlechter. In 50 Jahren wird er nicht so stattlich und gut gewachsen sein wie ein unverbissener Baum. Es entsteht quasi – weil in der Forstwirtschaft immer in langen Zeiträumen gerechnet werden muss – ein finanzieller Schaden.
Das soll nicht sein, weshalb im Jagdgesetz der bei vielen Jägern umstrittene Grundsatz „Wald vor Wild“ gilt. Das Gutachten ist die Basis für den alle drei Jahre zu erstellenden Abschussplan, den alle Jagdpächter in ihren Revieren erfüllen müssen. Deshalb ist der Tag für Schnabel eine Premiere: Er hat den Job erst seit zweieinhalb Jahren, es ist also das erste Gutachten, bei dem er beteiligt ist. Dementsprechend gespannt ist er auf die Ergebnisse. Denn sein Vorgänger habe Probleme gehabt, den Abschussplan zu erfüllen, sagt Schnabel. In einigen Revieren war der Verbiss zu hoch, er musste mehr Wild erlegen. „Das hat gut geklappt“, sagt er. Jetzt sollten sich die ersten Ergebnisse zeigen.
Bei den Begängen zum Gutachten sollen am besten immer alle Beteiligte dabei sein, um möglichst große Transparenz zu schaffen. Der Jagdgenosse hatte an diesem Tag absagen müssen, es war ihm etwas dazwischen gekommen, sagt Hartmann. Also haben sie und Abele allein mit Schnabel am Laptop besprochen, wo es hingeht. Vom Gut Rechetsberg südlich von Oberhausen führt der Forstweg in den Wald, geschätzt einen Kilometer weiter parken sie ihre Autos und gehen zu Fuß weiter, immer dem GPS-Signal nach, bis sie an die richtige Stelle kommen. Es ist ein lichtes, abschüssiges Waldstück, in dem viele kleine Fichten nachkommen. „Vermutlich ist es noch nicht lange her, dass Borkenkäfer und Stürme hier ganze Arbeit geleistet haben“, sagt Hartmann. Einige Meter weiter, wie durch einen unsichtbaren Zaun abgegrenzt, ist der Wald dichter und die nachwachsenden Bäume deutlich größer.
Hinter einer kleinen Schlucht, durch die ein Bach plätschert, steht dagegen gar kein Baum mehr. „Das ist natürlich das Schlimmste, was passieren kann“, sagt Hartmann. Denn komplett kahle Flächen wachsen mit Gras zu, da kommt kein nachwachsender Baum mehr durch.
Meine news
Flach wurzelnde Fichten dominieren immer noch viele Wälder
Dem Wald geht es grundsätzlich nicht gut. Obwohl der Umbau in stabilere Mischwälder seit Jahren propagiert und auch finanziell vom Staat gefördert wird, dominieren immer noch die flach wurzelnden Fichten, die sowohl durch Trockenheit als auch Stürme zum Teil massiv geschädigt werden.
„Bei dem verheerenden Hagelunwetter 2021 haben wir nur in meinem Bereich in zehn Minuten 65 000 Festmeter Holz verloren“, sagt Hartmann nachdenklich. „Bei mir standen Leute an der Haustür, mit Tränen in den Augen, die gesagt haben: Im Wald ist alles kaputt.“ Manchmal bleibt dann tatsächlich nichts anderes übrig, als großflächig auszuholzen, damit nicht der Borkenkäfer sich breitmacht und auch noch die gesunden Fichten holt. Doch der nasse Winter macht zumindest Hoffnung: „Der hat gut getan. Es ist schön, wenn man im Wald mal wieder feuchte Füße bekommt“, sagt Hartmann.
Manche Waldbesitzer setzen auf Anpflanzungen. In der kleinen Schlucht etwa stehen rund 100 ummäntelte Bäumchen, die sie vor Wildverbiss schützen sollen. „Das sind Rot-Erlen“, klärt Hartmann auf, die auch neugierig war, was dort gepflanzt worden ist. Denn als Försterin weiß sie über vieles Bescheid, was in den Wäldern passiert, für die sie zuständig ist. Doch nicht alle sprechen sich vorher mit dem Forstamt ab. „Die Baumwahl ist nicht schlecht, weil die Rot-Erle gut mit feuchten Böden wie hier zurechtkommt“, beurteilt Hartmann die teure Aufforstung, die Waldbesitzer eigentlich gerne vermeiden – natürlich nachwachsende Bäume kosten nichts und sind immer besser an den Boden ihrer Umgebung angepasst als Bäumchen aus der Baumschule.
Nachdem sie die Lage sondiert hat, stecken Hartmann und Abele auf einer geraden Strecke von rund 60 Metern in regelmäßigem Abstand insgesamt fünf Fluchtstäbe in die Erde. Dann macht sich Hartmann auf die Suche: Die 15 nächstgelegenen Pflanzen im Umkreis eines Stabes, die zwischen 20 und 120 Zentimeter hoch sind, werden mit Wäscheklammern markiert. Das ist an dieser Stelle mit unzähligen Fichten leicht.
Dann geht es auch schon los: „Fichte gut, Fichte gut, Fichte oberes Drittel“, diktiert sie Abele, die alles ins Laptop einträgt. Gut heißt, dass die Pflanze unverbissen ist, oberes Drittel, dass sie im oberen Bereich angeknabbert wurde. Am schlimmsten ist immer der Leittriebverbiss, der das Wachstum enorm hemmt. Doch das ist hier nicht passiert.
Nachdem Hartmann einen Wäschestab nach dem anderen von den Bäumchen entfernt und wieder an ihre Jacke gezwickt hat, folgen noch fünf ganz kleine Bäume unter 20 Zentimeter Größe. Nachdem die Stelle des Fluchtstabs mit einer roten Schleife markiert worden ist, damit sie bei eventuellen Zweifeln oder Nachfragen später wiedergefunden werden kann, geht es schon weiter zum nächsten Punkt.
Wildschweine verursachen große Schäden auf Wiesen und Feldern
Schnabel schaut interessiert zu. Sein geschulter Blick hat aber noch etwas anderes entdeckt: umgepflügtes Moos. „Das waren Wildschweine“, sagt er. Die lassen sich in seinen Revieren zum Glück selten blicken. Denn die Tiere verursachen zum Teil große Schäden auf Wiesen und Feldern und seien schwierig zu jagen – auch weil sie so schlau sind.
Schnabel hat seine eigene Jagdtechnik. Zum Beispiel jagt er bevorzugt morgens, damit habe er viel bessere Erfahrungen gemacht als abends – auch, weil die Sicht besser sei. „Zur Ansitzjagd auf dem Hochsitz bin ich fast nie. Ich gehe meistens auf die Pirsch.“ Das heißt, er nähert sich dem Wild vorsichtig zu Fuß, immer entgegen dem Wind, damit er nicht gewittert wird. Und nur im Wald, nicht auf freiem Feld. Das habe gleich mehrere Vorteile: „Dann wissen die Tiere, dass sie draußen nichts befürchten müssen. Jedes Tier, das sich außerhalb des Waldes ernährt, verbeißt keine Bäume.“
Zudem gebe es im Wald die Möglichkeit des Mehrfach-Abschusses. „Wenn ich vom Hochsitz aus auf einer freien Wiese ein Reh erlege, sind die anderen Tiere sofort weg.“ Im geschützten Wald dagegen schauen sie oft noch und bleiben noch stehen. Schnabel zeigt ein Bild auf seinem Handy, wo er just in diesem Waldstück vor einem Jahr gleich vier Rehe hintereinander geschossen hat. „Außerdem intensivieren wir die Jagd im Mai und September. Dann sind wir rechtzeitig vor dem Winter fertig.“ Denn wenn das Wild in der kalten Jahreszeit erst seinen Kreislauf hochfahren muss, sorgt das für viele Verbissschäden.
Tannen sind zu schmackhaft für Rehe – „Die Fichte sticht, die Tanne nicht“
Hartmann und Abele sind derweil am zweiten Fluchtstab und setzen ihre Prozedur fort. „Die Tanne ist dabei, das ist ganz gut“, sagt Hartmann zufrieden. Doch wo ist eigentlich der Mutterbaum? Der muss ja irgendwo stehen, wenn hier kleine Tannen nachwachsen. „Die Tanne verteilt ihre Samen sehr weitläufig. Da reicht ein Baum pro Hektar“, sagt Hartmann.
Doch auch hier ist das Problem: Kleine Tannen finden sich, doch größere etwa mit einem Meter Höhe und größer nicht. Sie schaffen es nicht, weil sie schon vorher nicht nur verbissen, sondern ratzekahl verputzt werden. Die tief wurzelnde Tanne wäre so wichtig für den heimischen Wald, doch ist sie eben zu schmackhaft für die Rehe: „Die Fichte sticht, die Tanne nicht“, sagt Hartmann nicht das erste Mal an diesem Tag.
Nach den Punkten drei und vier, an dem auch einige Erlen und Eschen dabei waren, ist das Bild am fünften und letzten Aufnahmepunkt ganz anders: Es gibt weniger Licht, dafür viel Moos – Hartmann muss deutlich größere Kreise ziehen, bis sie die 15 benötigten Pflanzen entdeckt hat – und manchmal genau hinschauen. „Aber besser so als gestern bei Böbing. Da ist an einem Aufnahmepunkt alles gewachsen, was Stacheln hat, von Brombeere über Weißdorn und Schlehe bis zur Berberitze“, sagt sie und erinnert sich an manch schmerzhafte Erfahrung.
(Unser Weilheim-Penzberg-Newsletter informiert Sie regelmäßig über alle wichtigen Geschichten aus Ihrer Region. Melden Sie sich hier an.)
Schließlich ist die Aufnahme beendet. Für Hartmann und Abele war es einer von 78, für die sie zuständig sind. Für Schnabel war es der erste von mehreren in seinen Revieren. Von der oft beschriebenen Rivalität zwischen Jägern und Grundbesitzern bzw. Förstern ist an diesem Tag nichts zu spüren. „Es ist gut, wenn wir an einem Strang ziehen. Denn wir haben das gleiche Ziel“, sagt Schnabel.
Nahe dem Ausgangspunkt bei Gut Rechetsberg bahnt sich gerade ein Rückewagen den Weg über einen kleinen Weg und hinterlässt tiefe Spuren in der Erde – kein Wunder, ist er doch voll beladen mit Fichtenstämmen. Es ist höchste Zeit, kranke oder abgestorbene Bäume aus dem Wald zu holen. Sonst sorgt der Borkenkäfer für noch mehr kahle Flächen – und die kleinen Bäumchen werden die Lücken erst in Jahrzehnten schließen können.
Noch mehr aktuelle Nachrichten aus dem Landkreis Weilheim-Schongau finden Sie auf Merkur.de/Weilheim.