Panzer-Parade am 9. Mai: Vom „Fest mit Tränen in den Augen“ zu Putins „Siegeswahn“
Seit 1945 feiert Moskau am 9. Mai den Sieg über Nazi-Deutschland. Aber die Form hat sich verändert. Putin kapert das Gedenken Russlands, sagt eine Expertin.
Am Freitag lässt Wladimir Putin Panzer durch Moskau rollen. Wie jedes Jahr. Wie jedes Jahr?
Dem Sieg über Nazi-Deutschland am 9. Mai zu gedenken, ist tatsächlich seit 1945 Tradition – zuerst in der Sowjetunion, dann auch in Russland. Nicht unbedingt aber, dass dabei Panzer auffahren, wie Daria Khrushcheva der Frankfurter Rundschau erklärt. Die in Russland aufgewachsene Slawistin der Ruhr-Uni Bochum attestiert der Regierung um Putin „Aneignung von Erinnerung“. Die verbliebene russische Opposition spreche von „Siegeswahn“.
Putins Militärparade als „skrepa“ – wie sich der 9. Mai in Russland verändert hat
„Im postsowjetischen Russland gibt es zwei wichtigste Feiertage – Neujahr und den 9. Mai“, sagt Khrushcheva. An Neujahr hält Putin eine TV-Ansprache, teils mit gewissen Eigenheiten. Am 9. Mai laufen in Russlands weitestgehend gleichgeschaltetem Fernsehen neben der Parade Kriegsfilme und -lieder. Beiden Tagen gemein sei: Sie sollen „das Volk einende Ereignisse“ sein. Dafür habe der Kreml sogar ein Wort, „skrepa“; „Bindeglieder“.

Der 9. Mai hat aber über die Jahrzehnte seinen Charakter geändert. Am 9. Mai 1945 gab es zwar eine erste „Siegesparade“ mit in Moskau. Danach aber, mit Ausnahme der Jubiläumsjahre 1965, 1985 und 1990, lange Zeit nicht mehr. Die für den Kalten Krieg so typischen Fernsehbilder der Paraden in der Sowjetunion stammen oft von anderen Tagen: Der 1. Mai und der „Tag der Revolution“ am 7. November waren die typischen Anlässe dafür, wie Khrushcheva erläutert. Martialische Militäraufmärsche gab es vor allem am 7. November.
Der 9. Mai sei überhaupt erst seit 1965 ein landesweiter Feiertag geworden. „Davor war er eher ein Tag der Trauer und des Gedenkens an die Gefallenen; ein Tag, an dem sich Kriegsveteranen trafen“, sagt die Wissenschaftlerin. „Es gibt ein sehr bekanntes sowjetisches Kriegslied namens ‚Den Pobedy‘ (‚Tag des Sieges‘), in dem es heißt: ‚Das ist ein Fest mit Tränen in den Augen‘ – genau so wurde dieser Tag lange Zeit empfunden.“
Putin brachte die Panzer in die Parade: Kreml konstruiert Linien im Ukraine-Krieg
Von „Tränen“ scheint die aktuelle Kreml-Inszenierung nicht mehr viel wissen zu wollen. Die Behörden versuchten angesichts des Ukraine-Kriegs, die Erzählung einer durchgehenden historischen Linie zu schaffen, meint Khrushcheva. Die laute etwa so: „Unsere Großväter haben gekämpft, also müssen auch wir kämpfen.“ Dazu gesellt sich eine weitere konstruierte Parallele. 1945 besiegten die Alliierten tatsächlich Nazis und Faschisten – die vermeintliche „Denazifizierung“ der demokratischen Ukraine gehört nun zu den hartnäckig proklamierten offiziellen Kriegszielen Russlands. Im Gewirr aus vorgeblichem und tatsächlichen Faschismus verheddern sich Getreue wie Alexander Lukaschenko schon mal.
Das Ringen um angebliche historische Kontinuität zeige sich indes nicht nur in Worten – sondern auch auf Plakaten und staatlicher Werbung. Oder auch in russischer Pop-Musik, wie Krushcheva erläutert. Im Song „Za nas“ des Casting-Show-Stars Irina Dubzowa etwa:
„In den Fußstapfen unserer Großväter, für das Vaterland, treu und mutig, ziehen diese Jungs los.“
Putins eigene Idee war die nunmehr jährliche Parade indes nicht: Ab 1995 lud Vorgänger Boris Jelzin nach Moskau, unter anderen der damalige US-Präsident Bill Clinton kam bei der ersten Ausgabe. In diesen Jahren paradierten allerdings „nur“ Soldaten, wie exemplarisch Aufnahmen aus dem Jahr 1996 zeigen – Militärtechnik wie Panzer und Raketen präsentierte Russlands Armee erst ab 2008 wieder. Unter Putin. Der Guardian beobachtete damals eine „Wiederbelebung der sowjetischen Muskelspiel-Parade“.
Putins Parade in Moskau: 9. Mai „bedeutender Tag“ in Russland – aber vom Staat gekapert
Der 9. Mai sei immer noch ein „bedeutender Tag viele Russinnen und Russen“, sagt Krushcheva: „In fast jeder Familie gab es Verwandte, die am Krieg teilgenommen haben. Es ist ein Tag des Gedenkens und des Stolzes.“
Das offizielle Gedenken an den Zweiten Weltkrieg hätten Putin und der Kreml aber instrumentalisiert und auf Linie gebracht. Längst gebe es „tabuisierte Themen“ und einen Kampf um eine vermeintliche „‚historische Wahrheit‘ auf allen Ebenen“. 2019 etwa sei der Film „Prazdnik“ über die deutsche Blockade Leningrads für öffentliche Vorführungen verboten worden – weil er die Stadtoberen bei Feierlichkeiten zeigte, während Bürgerinnen und Bürger hungerten.
Die Expertin gibt ein weiteres Beispiel: Ab 2011 zogen in der Stadt Tomsk in einer zivilgesellschaftlichen Initiative Nachfahrinnen und Nachfahren von Kriegsveteranen mit Fotos ihrer verstorbenen Angehörigen durch die Stadt – auch, um an Leiden des Krieges zu erinnern. Mit wachsendem Erfolg übernahm der russische Staat die Idee kurzerhand, eingebettet ins offizielle Programm. 2015 marschierte Putin persönlich in Moskau mit, in Händen ein Foto seines Vaters. „Gerade die Instrumentalisierung dieses Projekts durch den Staat ruft bis heute viel Kritik und kontroverse Diskussionen hervor“, sagt Khrushcheva.
Putin will mit ranghohen Gästen punkten – Orbán sagt aus irritierendem Grund ab
Für Putin wird die Militärparade 2025 nicht zuletzt der Versuch sein, sich als akzeptierter Teil der Staatengemeinschaft zu zeigen. Anreisen soll unter anderem Chinas starker Mann Xi Jinping. Auch Staats- und Regierungschefs aus Europa und sogar der EU stehen auf der Gästeliste – beziehungsweise standen: Serbiens Präsident Aleksandar Vucic sagte aus gesundheitlichen Gründen ab, beim slowakischen Ministerpräsident und Rechtspopulisten Robert Fico blieb die Teilnahme aus demselben Grund zunächst unklar.
Nicht dabei sein wird ein weiterer Freund und Sympathisant Putins aus Mitteleuropa: Viktor Orbán sagte für die Parade offiziell ab. Die Erklärung aus Ungarns Regierung könnte allerdings irritieren: Die Teilnahme sei „nicht sinnvoll“ – weil das Ende des Zweiten Weltkrieges für Ungarn „eine bittere Niederlage bedeutete“, erklärte ein Sprecher. Ungarn hatte im Krieg an der Seite von Nazi-Deutschland erst sein Gebiet massiv ausgeweitet. Ab 1944 war es selbst vom früheren Verbündeten besetzt. Für Orbáns Regierung offenbar rückblickend goldene Tage. Gewagte Geschichtsdeutung ist kein Alleinstellungsmerkmal Putins. (fn)