„EM hat Fokus abgelenkt“ – doch Stunde der Wahrheit naht: Hält Putins Draht nach Georgien?
Georgien steht vor einer entscheidenden Parlamentswahl. Das ‚russische Gesetz‘ und befürchtete Manipulationen werfen dunkle Schatten voraus.
Tiflis/München – Noch im Mai ruhten Europas Blicke für ein paar Tage auf Georgien: Nicht nur in der Hauptstadt Tiflis fanden damals große Demonstrationen statt – aber von dort kamen die eindrücklichsten Bilder. Mit EU-Flaggen ausgestattete Menschen gerieten ins Visier der Wasserwerfer. Nahezu täglich protestierten Georgier gegen ein geplantes Gesetz nach russischem Muster. Es soll „ausländische Agenten“ brandmarken und NGOs aufs Radar bringen. Und eigentlich kursierte nur eine These zu den Hintergründen, wie Stephan Malerius von der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Tiflis schilderte: Ein Anruf aus Moskau dürfte das Projekt damals auf die Schiene gesetzt haben.
Mittlerweile ist das Gesetz beschlossen – und die großen, landesweiten Proteste sind nach Malerius‘ Eindruck vorerst abgeebbt. Er prognostiziert für Georgien dennoch einen turbulenten Herbst. Dessen Ausgang dürfte auch für Wladimir Putins Russland und die EU von Interesse sein; beide scheinen in einer Art Fernduell um Einfluss auf Tiflis zu ringen. Im September tritt nun das „Agentengesetz“ in Kraft, die Parlamentswahlen stehen Ende Oktober an. Letztere könnten entscheidend für Georgiens Zukunft werden. Aber es besteht die Befürchtung, dass die Regierungspartei „Georgischer Traum“, die sich auf Putins Kurs einzuschwenken scheint, Manipulationen vornehmen wird.
Georgien zwischen Putins Russland und EU: Wahlen „letzte Möglichkeit“ gegen „russisches Gesetz“
Es dürfte also die Ruhe vor dem Sturm sein. „Es ist sehr heiß geworden, die Sommerferien haben angefangen, dann hat die Fußball-Europameisterschaft natürlich den Fokus abgelenkt“, berichtet Malerius IPPEN.MEDIA. Georgien hatte bei der EM in Deutschland überraschend das Achtelfinale erreicht.

Malerius ergänzt: „Hinzu kommt, dass die Menschen jetzt verstehen, dass es eigentlich um die Wahlen im Oktober geht: dass die Wahlen die letzte Möglichkeit sind, dieses Gesetz von einer neuen Regierung zurücknehmen lassen zu können.“ Der Fokus wende sich nun zur Opposition. Erwartet werde, dass sich drei Oppositionslisten formieren. Diese könnten unabhängig voneinander antreten, sich aber untereinander koordinieren, um die Regierungspartei abzulösen. Doch wie stehen die Chancen?
Es gebe zwar mehrere aktuelle Umfragen, sagt der Regionalprogrammleiter der KAS. Allerdings seien sie nicht überall im Land Gesprächsthema und die Belastbarkeit der Daten unsicher. Glaube man aber den Erhebungen, dann könne der „Georgische Traum“ aktuell etwa 30 Prozent der Stimmen erhalten, die vereinte Opposition komme auf 40 Prozent. „Es zeichnet sich das Bild ab, dass die Wahlen noch lange nicht entschieden sind“, sagt der Experte. Keine banale Erkenntnis: Bei den Wahlen 2020 erhielt die Regierungspartei 48,2 Prozent der Stimmen, was eine absolute Mehrheit im Parlament bedeutete.
„Tausende“ Beobachter zur Georgien-Wahl: Hält Putins heißer Draht nach Tiflis?
Sollte sich das diesmal ändern, könnte das auch mit den Auswirkungen des „russischen Gesetzes“ zusammenhängen. Die EU hat scharf reagiert und wird wahrscheinlich die Überlegungen zu einem Beitritt Georgiens auf Eis legen – eine konstante Mehrheit in Georgien will aber die Annäherung an die EU. Die Regierung, indirekt gesteuert von der kremlnahen grauen Eminenz der Partei, Bidsina Iwanischwili, versuche, die Signale aus Brüssel zu ignorieren und vor allem eine Art Brandmauer zu errichten, damit die Bevölkerung nichts mitbekomme oder nur gefilterte Informationen erhalte, meint Malerius.
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Eine weitere Strategie zur Machterhaltung könnten Manipulationen am Wahltag, dem 26. Oktober, sein. Es gab bereits entsprechende Vorwürfe bei den Wahlen 2020. „Alle gehen davon aus, dass Manipulation und Fälschung stattfinden werden“, sagt Malerius. „Die Opposition, auch die Zivilgesellschaft und die internationale Gemeinschaft bereiten sich jetzt darauf vor, eine sehr, sehr robuste, sowohl internationale als auch lokale Wahlbeobachtung zu machen.“ „Tausende“ Beobachter seien willens, sich einzusetzen, um Manipulationen zumindest nachweisbar zu dokumentieren.
Vor der Auseinandersetzung um Georgiens Zukunft an den Wahlurnen müssen jedoch viele NGOs und Projekte um ihr Überleben kämpfen. Im September tritt das ominöse Gesetz in Kraft, und bis Oktober müssen sich die Organisationen registrieren. Die Suche nach Auswegen läuft. Zugleich gebe es Sorge vor weiteren Repressionen der Regierung, berichtet Malerius aus Gesprächen in Tiflis. Ziel könnte „Einschüchterung“ sein - nicht zuletzt, um die Wahl zu gewinnen. Wenn das gelingt, würde es Wladimir Putin sicherlich freuen: Seine direkte Verbindung nach Georgien würde bestehen bleiben. Und die EU verlöre vorerst einen Beitrittskandidaten. (fn)