Putins nächstes Opfer? Analystin vermutet Kalkül hinter ausbleibender Reaktion auf Kursk-Offensive
Eine Ewigkeit liegt zwischen dem Überfall der Kursk-Region und dem Verlust des gleichnamigen U-Bootes. Aber Putin reagiert gleichermaßen gleichgültig.
Kursk – „Kurz gesagt, die russischen Boden- und Luftstreitkräfte sind überfordert wie nie zuvor während des gesamten Krieges“, äußert Michael Bohnert im britischen Telegraph. Der Analyst des Thinktank RAND ist durch und durch optimistisch, die Ukraine habe wieder einen Weg zum Sieg gefunden. Derweil kommt Kimberly Dozier zu einem ganz anderen Schluss: Ihrer Meinung nach könnte Wladimir Putin das Eindringen der Ukraine in Kursk vorsichtig eskalieren lassen, um die russische Bevölkerung wieder einzuschwören auf einen Krieg, der sich länger hinzieht, als das geplant gewesen war. Nach Meinung der Autorin des Senders CNN könnte Putin die Region opfern, um die Ukraine ins offene Messer laufen zu lassen. Aber da wäre noch eine andere Erklärung.
„Das naive und illusorische Konzept der ‚roten Linie‘, das Russland bei der Einschätzung des Krieges durch einige Partner dominiert hat, ist in den letzten Tagen irgendwo in der Nähe von Sudscha zusammengebrochen“, zitiert die französische Zeitung Le Monde den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Kursk habe Wladimir Putin sowohl innen- als auch außenpolitisch enorm unter Druck gesetzt – der Mythos der territorialen Unverletzlichkeit Russlands auf der internationalen Bühne werde untergraben, mutmaßt Le Monde-Autor Emmanuel Grynszpan. Er sieht Putin in Erklärungsnot gegenüber seinem Volk.
Rätselraten bei Kursk-Offensive – wann kommt Putins Reaktion?
Auch die Nachrichtenagentur Associated Press will von Unruhe unter Putins Unterstützern erfahren haben; denen passiert in Kursk zu wenig; genau wie Kimberly Dozier dargelegt hat, finden auch Putins Kritiker: Putin könnte eine Gegenoffensive beginnen beziehungsweise die Offensive der Ukrainer wenigstes verzögern. Beides bleibt aus. Vorerst. Verluste sind auch territorial ein wichtiges Thema in Russland – dabei ist der Gewinn in Kursk verschwindend gering.
„So unterschiedlich diese Gruppen auch waren, alle, mit Ausnahme derjenigen, die weggezogen waren, schlossen sich um Wladimir Putin zusammen. Sie halten ihn nicht nur als Symbol, sondern auch als rettenden Anker fest. In der Extremsituation, in der sich Russland heute befindet, bleibt Putin ein Beschützer und Retter.“
0,006 Prozent des riesigen russischen Reiches seien jetzt in der Hand der Ukraine, sagte Tagesspiegel-Journalist Christian Tretbar in der Presserunde auf Phoenix; das wäre also kein Grund zur Sorge für Putin. Auch die freie Journalistin Gesine Dornblüth fürchtet keine größeren militärischen Manöver Russlands angesichts des ukrainischen Einmarsches.
Ihr zufolge zählten vor der Welt vielmehr die Hunderte Gefangener – „einige Quellen sprechen sogar von 2000“, wie sie sagt. Das sei der Punkt, an dem sich Russland tatsächlich bewege, an dem die Ukraine Russland zur Reaktion zwingen könne. „Und Russland hat quasi angeklopft und gefragt nach einem Gefangenen-Austausch, weil einfach die Tatsache, dass dort Wehrpflichtige gefangen genommen wurden, ans Licht gebracht hat, dass die da im Einsatz sind und das ist eben sehr, sehr umstritten in Russland.“
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Kursk: Beobachter vermuten in Ukraine-Offensive Niederlage des Systems Putin
CNN-Analystin Dozier sieht in Kursk eben auch den Schachzug Putins, Angst zu schüren, das Volk auf stärkeren Verzicht einzuschwören und mehr Personal rekrutieren zu können. „Der Krieg in der Region Kursk weckt bei Männern im kampffähigen Alter gemischte Gefühle“, schreibt Benjamin Quénelle – die ausgesetzten Kopfgelder erreichten Rekordsummen, wie der Moskau-Korrespondent von Le Monde deutlich macht. Offenbar versuche der Kreml mit allen Mitteln seine Reihen zu füllen: „Gemeinsam bieten das Moskauer Rathaus und das Verteidigungsministerium nun jedem Freiwilligen, der an die Front geht, jährlich 5,2 Millionen Rubel (mehr als 50.000 Euro).“
Kursk scheint demnach eine Niederlage des Systems Putin an sich zu sein, vermutet die Washington Post: Putins kriegerische Rhetorik stehe im harten Kontrast zu seinen langsamen, wenig entschlossenen Entscheidungen in Momenten, in denen seine Autorität herausgefordert würde und Maßnahmen gefragt seien. Dennoch würden sich die Russen durch alle Schichten hindurch und über die Jahre hinweg gleichermaßen weiterhin um Putin scharen, betont der Politologe und Chef des Meinungsforschungsinstituts VCIOM im Interview mit dem staatlichen Sender RBK.
Russland: Geplagt vom Ukraine-Krieg, aber gefühlt beschützt durch Putin
„So unterschiedlich diese Gruppen auch waren, alle, mit Ausnahme derjenigen, die weggezogen waren, schlossen sich um Wladimir Putin zusammen. Sie halten ihn nicht nur als Symbol, sondern auch als rettenden Anker fest. In der Extremsituation, in der sich Russland heute befindet, bleibt Putin ein Beschützer und Retter“, sagt er. Allerdings hängt Putins Reputation vom Kriegsverlauf ab. „Nicht meine Schuld“, zitiert ihn das Magazin Politico.
Putin schiebt die Niederlage auf das Militär ab, wie die Washington Post berichtet: Der Kreml habe stillschweigend einer umfassenden Säuberung im Verteidigungsministerium zugestimmt – der Vorwurf lautet häufig: Korruption oder Betrug. Festnahmen ziehen sich wohl auch hinunter bis in niedrigere Offiziersränge. Entscheidend für seinen Machterhalt seien aber die Eliten, behauptet Ekaterina Schulmann. Der Wissenschaftlerin vom Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin zufolge stellten sich die Eliten in Russland längst die Frage, ob der alte Mann noch eine Bereicherung oder bereits eine Belastung sei. Offenbar beließen sie aber den Status quo, weil ihnen ein Machtkampf in Moskau nicht geheuer wäre.
Russlands Eliten und Putin: Ein Zustand „unglücklicher Unterwerfung“
„Man könnte Russlands Eliten als in einem Zustand ,unglücklicher Unterwerfung‘ beschreiben, sagt Nigel Gould-Davies vom International Institute for Strategic Studies in London gegenüber der Post. Demnach würden die Eliten darauf hoffen, dass er auch diese Krise mit scheinbarer Gelassenheit angehe, und er sich letztendlich, wie immer, durchsetzte. Der Analyst Eugene Rumer wiederum bezweifelt in der Post, dass Kursk am Nimbus Putins arg kratzen könnte, weil die gegenseitigen Abhängigkeiten in der gehobenen russischen Gesellschaft so stark verwoben seien, dass sie sich wiederum gegenseitig stützten.
„Das gesamte russische politische und militärische Establishment ist an seinem Krieg beteiligt und für diese Katastrophe verantwortlich“, schreibt der Direktor des Thinktanks Carnegie Russia and Eurasia Program. Allerdings betrachtet das Lena Surzhko Harned ganz anders und sieht in der aktuellen militärischen wie politischen Lage die Gefahr, „dass der russische Präsident verwundbar und schwach erscheint“, wie sie für die Plattform The Conversation schreibt. Die Politikwissenschaftlerin der Penn State Unversity schlägt in ihrer Argumentation einen Bogen von Putins vermeintlichem Versagen „von Kursk nach Kursk“ – und dieser Bogen zieht sich fast über ein Vierteljahrhundert.
Die Russische Föderation hatte bereits eine „Kursk“-Krise unter der Ägide Wladimir Putins. Am 12. August 2000 hat eine Explosion in der Torpedoluke des Atom-U-Bootes „Kursk“ den Großteil der 118 Besatzungsmitglieder während ihrer Tauchfahrt sofort getötet. Rund 23 Matrosen konnten sich retten und harrten in dem in der Barentsee gesunkenen Stahlkoloss ihrer Rettung entgegen – die allerdings ausblieb.
Putins Lähmung: U-Boot-Katastrophe mit Parallelen zur Ukraine-Offensive in Kursk
Verschiedene Länder hatten das Unglück seismographisch aufgezeichnet, Schlüsse gezogen und ihre Hilfe angeboten. Putin habe aber ausländische Hilfe abgelehnt und erst Tage später zögernd norwegische Taucher zugelassen; die allerdings fanden keine lebende Seele mehr.
Lena Surzhko Harned dokumentiert, dass Putin zu der Zeit erst in den Ferien und dann in Staatsangelegenheiten unterwegs war: Er soll sich geweigert haben, seinen Urlaubsort Sotschi am Schwarzen Meer aufgrund des Unglücks zu verlassen um dann, mitten in der Katastrophe an einem informellen Treffen mit den Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten in Jalta auf der Krim teilzunehmen.
Auch eine Begegnung mit den Angehörigen der gefallenen Matrosen soll er nur widerwillig absolviert haben. Für seine Deutung der Dinge schien das Unglück vermutlich einfach nicht stattgefunden zu haben. Möglicherweise gilt heute in der Region Kursk wie damals das, was Lena Surzhko Harned über die damalige Katastrophe schreibt: „Die Kursk-Katastrophe offenbarte, was Kritiker als ,politische Lähmung‘ im Kreml bezeichneten.“