Hendrik Streecks Satz über 100-Jährige ist brandgefährlich für Deutschland

Als der Virologe und Politiker Hendrik Streeck (CDU) in einer Talkshow erklärte, man müsse sich fragen, „ob man einer Hundertjährigen wirklich noch teure Medikamente geben“ solle, weil „es Phasen im Leben gibt, wo man bestimmte Therapien nicht mehr einfach so benutzen sollte“ (n-tv.de, 12. November 2025), löste das einen Sturm der Empörung aus. 

Zu Recht: Denn hinter dieser scheinbar rationalen Kosten-Nutzen-Frage verbirgt sich ein gefährlicher Gedanke, dass das Alter an sich ein Kriterium für medizinische Versorgung sein könne. 

Warum wir Hendrik Streeck entschieden widersprechen müssen

Diese Sicht ist medizinisch falsch, ethisch bedenklich, menschlich verletzend und gesellschaftlich brandgefährlich.

Medizinisch ist es unhaltbar, Therapien nach dem Lebensalter zu begrenzen. Alter ist ein Risikofaktor, aber kein Ausschlussgrund. Die moderne Geriatrie zeigt, dass Gesundheitszustand, funktionelle Reserve und persönliche Präferenz weit wichtiger sind als das Geburtsjahr.

Das Alter allein sagt nichts über Behandlungsnutzen aus

Eine Studie der Universität Toronto (Wong et al., Journal of the American Geriatrics Society, 2020) kommt zu dem Schluss, dass „chronologisches Alter kein verlässlicher Prädiktor für Therapieerfolg“ ist. Auch das National Institute on Aging in den USA warnt ausdrücklich davor, Behandlungen allein aufgrund des Alters zu verweigern, da die Heterogenität im hohen Alter extrem groß sei.

Sogar bei Hochbetagten zeigen moderne Medikamente und Therapien häufig klinisch relevante Effekte, nicht nur in Lebensverlängerung, sondern vor allem in Lebensqualität, Mobilität und Symptomkontrolle. Eine Meta-Analyse in „The Lancet Healthy Longevity“ (2022) belegt, dass „viele Interventionen auch jenseits des 85. Lebensjahres signifikante funktionelle Verbesserungen“ bringen.

Wer also sagt, eine 100-Jährige solle keine „teuren Medikamente“ mehr bekommen, ignoriert wissenschaftliche Evidenz und ersetzt sie durch Biologismus das genaue Gegenteil dessen, was moderne evidenzbasierte Medizin verlangt. Ethisch gilt in der Medizin das Prinzip der Autonomie, der Wohltätigkeit (Benefizienz), des Nicht-Schadens (Non-Malefizienz) und der Gerechtigkeit.

Alte Menschen nicht mehr zu behandeln, verletzt vier Prinzipien

Diese vier Prinzipien, formuliert von Tom Beauchamp und James Childress in Principles of Biomedical Ethics (Oxford University Press, 1979), sind internationaler Standard.

Wenn ein Arzt oder eine Gesellschaft entscheidet, alte Menschen „nicht mehr zu behandeln“, verletzt das gleich mehrere dieser Prinzipien:

  1. Die Autonomie wird negiert, weil der Patient nicht mehr über sein Schicksal entscheiden darf.
  2. Die Gerechtigkeit wird untergraben, weil Alter zum Ausschlusskriterium wird.
  3. Die Menschenwürde – zentraler Wert der Verfassung – wird verletzt, wenn das Leben eines Menschen als „nicht mehr lohnend“ gilt.

Die Unesco-Erklärung über Bioethik und Menschenrechte (2005) legt fest: „Kein Mensch darf aufgrund seines Alters von medizinischer Versorgung ausgeschlossen werden.“ 

Das ist ein universeller Standard, den Streecks Aussage offen in Frage stellt.

Mimoun Azizi
Mimoun Azizi Privat

Dr. med. Mimoun Azizi ist Chefarzt des Zentrums für Geriatrie und Neurogeriatrie im KVSW und Facharzt für Neurologie. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Altersdiskriminierung ist bereits Realität

Was Streeck vorschlägt, ist nicht theoretisch. Schon heute zeigen Untersuchungen, dass ältere Menschen oft schlechter behandelt werden. Eine Auswertung des European Observatory on Health Systems and Policies (2023) fand, dass Patientinnen über 80 Jahre bei vergleichbarer Diagnose signifikant seltener invasive Therapien oder Reha-Maßnahmen erhalten.

Soziale Gerontologen wie Andreas Kruse (Universität Heidelberg) warnen seit Jahren vor „medizinischem Ageism“, einer strukturellen Diskriminierung älterer Menschen im Gesundheitssystem. Sie beginnt mit subtilen Formulierungen („Das lohnt sich doch nicht mehr“) und endet bei institutioneller Benachteiligung.

Eine Gesellschaft, die das Alter als Kostenfaktor statt als Lebensphase begreift, verliert ihre Humanität. Wer jemals eine alte Mutter, einen Großvater oder eine Freundin im Pflegeheim besucht hat, weiß, dass auch im hohen Alter Zuwendung, Würde und medizinische Fürsorge entscheidend sind für das Wohl, für die Familie, für die Gesellschaft.

Rita Lord trainiert im Fitnessstudio.
Die 100-Jährige Rita Lord trainiert im Fitnessstudio. Foto: Harald Tittel/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die dunklen Schatten der „Nützlichkeitslogik“

Historisch sollten wir sehr vorsichtig sein, wenn medizinische Versorgung mit ökonomischem „Nutzen“ verknüpft wird. Schon in den 1930er-Jahren argumentierten Eugeniker in Deutschland, dass „unproduktive“ oder „nicht mehr lebenswerte“ Leben Ressourcen verbrauchten. Das führte zu einem der schlimmsten Kapitel der Medizinethik, dem Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten, bei dem über 200.000 kranke und behinderte Menschen ermordet wurden.

Natürlich will Streeck nichts dergleichen. Aber die Logik, dass Leben ab einem gewissen Punkt „zu teuer“ sein könnte ist dieselbe gefährliche Grundidee. 

Medizinische Ethik hat sich seither bewusst davon distanziert. Das Grundgesetz formuliert unmissverständlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und zwar jedes Menschen, unabhängig von Alter, Produktivität oder Kosten.

Solidarität ist kein Verlustgeschäft

Das Argument der „Kostenexplosion“ ist nachvollziehbar, aber trügerisch. Zwar entstehen rund 30 Prozent der Gesundheitsausgaben im letzten Lebensjahr und unabhängig vom Alter (Seshamani & Gray, BMJ, 2004). Doch die Mehrkosten bei Hochbetagten sind oft Folge mangelnder Vorsorge, fehlender Koordination und unzureichender palliativmedizinischer Begleitung.

Eine systematische Übersichtsarbeit von Smith et al. in BMC Palliative Care (2021) zeigt, dass patientenzentrierte, ambulante und palliative Interventionen nicht teurer, sondern häufig kostensparend sind bei gleichzeitig besserer Lebensqualität.

Das Problem ist also nicht, dass alte Menschen behandelt werden, sondern wie wir behandeln. Die Lösung liegt nicht im Verweigern, sondern im klugen, menschlichen und individuellen Einsatz medizinischer Möglichkeiten.

Jeder Mensch ist mehr als seine Restlebenszeit

Vielleicht ist das Wichtigste an dieser Debatte das Menschliche. Eine 100-Jährige, die noch morgens ihre Enkel sieht, Gedichte schreibt oder einfach zufrieden im Sonnenschein sitzt, verdient dieselbe Achtung wie jeder andere. Wenn eine Therapie ihr helfen kann, Schmerzen zu lindern, Mobilität zu erhalten oder das Atmen zu erleichtern, dann ist das nicht „verschwendetes Geld“. Es ist Ausdruck von Menschlichkeit.

Hendrik Streeck erzählte in dem Interview, sein Vater habe in seinen letzten Wochen viele Medikamente erhalten, ohne dass sie geholfen hätten. Diese Erfahrung ist schmerzhaft und viele Angehörige teilen sie. Aber daraus folgt nicht, dass Medikamente im Alter sinnlos wären. Es folgt, dass wir besser kommunizieren müssen, ehrlicher aufklären, gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten Ziele definieren: Heilung, Linderung, Würde.

Ältere Menschen dürfen keine Bürger zweiter Klasse werden

Entscheidend ist nicht das Alter, sondern der Wille und das Wohl des Einzelnen. Die Forderung, hochbetagten Menschen teure Medikamente vorzuenthalten, ist nicht rational, sondern reduktionistisch. Sie verkennt die Vielfalt menschlicher Lebenslagen, widerspricht der evidenzbasierten Medizin, verletzt ethische Prinzipien und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wir brauchen eine ehrliche Debatte über Priorisierung und Ressourcen. Aber diese darf niemals dazu führen, dass alte Menschen zu Bürgern zweiter Klasse werden. Stattdessen sollten wir den Weg gehen, den die Palliativmedizin, Geriatrie und Ethik uns zeigen: nämlich individuelle Entscheidungen, offene Gespräche, Solidarität und Respekt vor der Würde des Menschen – bis zum letzten Atemzug. Eine Gesellschaft, die das vergisst, verliert nicht nur ihre Ethik, sie verliert auch sich selbst.