Vermisste Zwillinge: „Kinder fühlten sich beim Vater nie wohl“ – nach Syrien gebracht?

Seit einer Woche sind zwei Brüder aus Nordhessen verschwunden. Ihre Mutter ist verzweifelt – und sagt: Der Vater wollte sie schon lange nach Syrien bringen.
Wolfhagen – Hyam Alnaeem bangt um ihre Zwillinge Mostafa und Yosof. Nach einem Aufenthalt der Kinder am Samstag vor einer Woche beim Vater, von dem die junge Frau seit einigen Jahren getrennt lebt, habe dieser die sechs Jahre alten Jungen nicht wie vereinbart in die Wohnung der Mutter in Wolfhagen (Kreis Kassel) zurückgebracht, sagt sie. Auf negative Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit mit dem Kindsvater gemacht habe, begründet sich nun die große Sorge der 29-Jährigen um ihre Kinder.
Schon vor der Geburt der Zwillinge sei es immer wieder zu Problemen gekommen. Probleme mit dem Ehemann und dessen Mutter, sagt Hyam Alnaeem. Wegen wiederkehrender Konflikte und weil sie sich alleine um ihre Söhne gekümmert habe, habe ihr das Familiengericht in Brilon im Februar dieses Jahres das Alleinaufenthaltsbestimmungsrecht zugesprochen. Alle zwei Wochen dürfe der Vater die Kinder sehen, übernachten dürften die Zwillinge bei ihm jedoch nicht. Das Sorgerecht sei ihr bereits im März 2021 zugesprochen worden.
Mutter der verschwundenen Kinder berichtet von Übergriffen durch den Vater
Ihr Mann sei ihr gegenüber mehrfach handgreiflich geworden. Die Schwiegermutter, die bis zuletzt in Cottbus gelebt habe, habe sie im Jahr 2019 mit einem Messer angegriffen und verletzt, sagt Alnaeem. Sie habe diesen Vorfall bei der Polizei zur Anzeige gebracht.
Von Anfang an habe ihre Beziehung unter keinem guten Stern gestanden, sagt sie. Die Ehe sei nach muslimischer Tradition geschlossen worden. Die Mutter habe für ihren Sohn nach einer passenden Frau gesucht und sich bei den Eltern möglicher Kandidatinnen erkundigt. Der Wille der Frau spiele dabei keine Rolle. Der Lebenslauf ihres späteren Ehemannes, der in Deutschland Arzt sei, sei so gut, dass ihre Eltern nicht hätten Nein sagen können. Vor der Hochzeit hätten sie sich nicht ein einziges Mal gesehen, „sechs Telefonate – das war alles“, sagt die verängstigte Mutter.

Nur wenige Wochen nach der Heirat 2017 sei sie schwanger geworden. Die Zwillinge habe sie in Cottbus zur Welt gebracht. Immer wieder sei sie dazu gedrängt worden, mit den Kindern nach Syrien zu gehen. Schon damals habe der Vater nicht mit der Familie gelebt. Sie und die Kinder seien von 2017 bis 2019 bei der Schwiegermutter in Cottbus gewesen. Später sei sie nach Hallenberg gezogen und habe dort für vier Jahre gelebt.
Mutter der Zwillinge: Vater wollte Kinder schon immer nach Syrien bringen
Zwischenzeitlich, als die Kinder noch sehr klein gewesen seien, habe es in der Ehe auch Phasen gegeben, in denen ihr Mann sie gut behandelt habe. Das habe er aber aus rein taktischen Gründen getan, sagt Alnaeem. Sein Ziel sei es immer gewesen, die Kinder nach Syrien zu bringen.
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Im Jahr 2020 habe es schließlich ein einschneidendes Erlebnis gegeben: Ihr Mann habe sie und die damals zwei Jahre alten Zwillinge zu einem Urlaub in die Türkei eingeladen. Ein Fehler, wie sie wenig später habe erfahren müssen. Sie seien vom Flughafen in Istanbul in einem dunklen Auto mit getönten Scheiben abgeholt worden. Statt in ein Hotel sei es in ein abgelegenes Dorf gegangen. Dort habe bereits die Schwiegermutter gewartet, die sie eine Woche lang in einem Zimmer festgehalten und zusammen mit dem Vater der Kinder drangsaliert habe.
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Später ging es weiter nach Syrien. „Du hast keine Rechte, es gibt für dich kein Deutschland mehr“, das hätten sie ihr sinngemäß immer wieder gesagt. Handy und Ausweise seien ihr abgenommen worden, Geld habe sie ebenfalls keines gehabt. Der Kindsvater habe nach syrischem Recht ein Reiseverbot für die Kinder erwirkt. „In Syrien darf der Vater alles für die Kinder entscheiden, bis diese 18 Jahre alt sind“, sagt Alnaeem.
Vater soll Kinder schon einmal nach Syrien geholt haben
Zehn Monate habe sie damals in Syrien verbringen müssen. Es sei ihr gelungen, einen Anwalt zu konsultieren. Der habe ihr klar gemacht, dass sie kaum eine Chance habe, gegen den Willen des Ehemanns Syrien zu verlassen – es sei denn, sie passe sich an. „Also war ich eine gute Frau mit Kopftuch. Ich habe gut gespielt, ich war stark“, sagt die Mutter, die nun verzweifelt ist und um ihre Söhne bangt. Irgendwann habe er das Reiseverbot für die Kinder aufgehoben und im Dezember 2020 seien sie nach Deutschland zurückgekehrt.
Seit diesem Tag sei das Paar getrennt. Die Kinder hätten bei ihr gelebt. Doch der Vater habe sich an das Familiengericht gewandt, um die Kinder in seine Obhut zu bringen. Dabei habe er mit dem syrischen Recht argumentiert. Aber das Gericht habe letztlich ihr das Sorgerecht zugesprochen.
Seit einer Woche sind die nun Kinder fort. Sie habe geahnt, dass das irgendwann passieren würde. „Die Kinder haben sich beim Vater nie wohlgefühlt, sie mögen ihn nicht“, sagt Alnaeem. Sie habe den Zwillingen SOS-Zeichen beigebracht und ihnen gesagt, dass sie sich laut verhalten sollen, wenn sie Angst hätten und andere Menschen in der Nähe seien. Die Brüder seien einander sehr nah. Dass sie zusammen seien, sei nun der einzige Trost für sie.
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