Frankreichs Nuklearschirm soll die USA ersetzen: Wie viel Europa passt wirklich darunter?

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Eine europäische Sicherheitsarchitektur unter französischer Führung? Für Europa eine Zeitenwende. Aber hinter Frankreichs Atomwaffen lockt Sicherheit.

Paris – „Zwei Ecksteine markieren den Weg zu europäischer Selbstverteidigung“, schreibt Eckhard Lübkemeier. Im Magazin Internationale Politik Quarterly hat der Analyst zusammen mit Michael Rühle die Frage diskutiert, inwieweit Europa gemeinsame Nuklearwaffen brauche. Das war bereits Anfang vergangenen Jahres; lange bevor Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, den Impuls zu einem „europäischen Atomschirm“ gegen Wladimir Putins Streitkräfte aufgeworfen hat. Die BBC stellt daher die Frage, welche Verbündeten darunter passen können.

Ein Dassault Rafale-Kampfjet, der mit einer französischen nuklearen luftgestützten Marschflugkörper vom Typ ASMPA (Mittelstrecken-Luft-Boden-Rakete) im Kurvenflug.
Abschreckend: Ein Dassault Rafale-Kampfjet, der mit einer französischen nuklearen luftgestützten Marschflugkörper vom Typ ASMPA (Mittelstrecken-Luft-Boden-Rakete) beladen ist. Die französische Luftwaffe könnte die Korsettstangen eines französisch dominierten europäischen Atomschirms werden. © IMAGO/ABACA

„Bisher basierte die französische Nukleardoktrin auf der Drohung einer massiven atomaren Reaktion für den Fall, dass der Präsident der Ansicht war, die ,vitalen Interessen‘, Frankreichs stünden auf dem Spiel“, hat BBC-Autor Hugh Schofield festgehalten. Emmanuel Macron will einen atomaren Schutzschild über ganz Europa spannen. Offenbar decken sich die Interessen Frankreichs deutlicher mit denen von dessen Nachbarländern als bisher – seit US-Präsident Donald Trump von den Europäern die Übernahme von mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit gefordert hatte.

Atomraketen gegen Putin: „Es ist eine alte Idee, die sich nie durchgesetzt hat“

„Es ist eine alte Idee, die sich nie durchgesetzt hat“, schreibt dazu Joseph de Weck. Der Autor erinnert im Magazin Internationale Politik Quarterly daran, dass bereits der ehemalige bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß (CSU) diese Idee gehabt haben soll, aber weder die Regierungen in Bonn noch in Paris davon begeistern konnte. Offenbar treibt jetzt die Existenzangst die Franzosen dazu, diese Möglichkeit wieder zu reanimieren. Präsident Emmanuel Macron habe wiederholt einen Dialog über die europäische Dimension der französischen Nuklearwaffen angeboten. Solange ihn niemand beim Wort nehme, ließe sich nicht beurteilen, wie ernst er es meine, schreibt Lübkemeier.

„Frankreichs unabhängige Abschreckung stärkt die Nato insgesamt, weil sie die Kalkulation der Gegner komplizierter macht. Zwar ist die nukleare Abschreckung ein Eckpfeiler der Abschreckungsstrategie der Nato, doch das lässt sich von der Europäischen Union nicht behaupten: In vielen Mitgliedstaaten herrscht nach wie vor Unklarheit über die Rolle von Atomwaffen in der Verteidigungsplanung“, so das Bulletin.

Ihm zufolge markiere den zweiten Eckstein europäischer Sicherheit die Nuklearmacht Großbritannien – von denen erwarte er aktuell aber noch wenig. Außerdem lässt eine entsprechende Erklärung von Premierminister Keir Starmer auf sich warten. Was den „Atomschirm“ zwangsläufig kleiner dimensioniert als vielleicht wünschenswert wäre. „Noch wichtiger wäre, dass Frankreich zu einer auf breiter Front vertieften Integrationsgemeinschaft williger EU-Staaten gehörte“, so Lübkemeier.

290 Nuklearsprenköpfe listet der Thinktank Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) für Frankreich auf. Russland verfügt danach über 5.889 Sprengköpfe. Wie eindrucksvoll könnte Frankreichs Abschreckung also aussehen – selbst ergänzt durch die 225 Sprengköpfe des Vereinigten Königreichs? Die französische Doktrin erklärt Lydia Wachs damit, dass Paris mit einem Erst- oder Gegenschlag einem gegnerischen Staat ‚inakzeptablen Schaden‘ zu­fügen könne. Frankreichs Kernwaffen richten sich daher nicht gegen Nuklearstreitkräfte eines potenziellen Kontrahenten oder vielleicht heranrollende Panzerarmeen, sondern gegen dessen „poli­tische, wirtschaftliche und militärische Nervenzentren“, wie die Analystin des deutschen Thinktanks Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) behauptet.

Macrons nukleare Abschreckungsoffensive: „Eine der Lebenslügen der deutschen Sicherheitsdebatte“

Hugh Schofield stellt fest, dass völlig unausgegoren ist, wie eine französische oder britisch-französische nukleare Abschreckung in Europa funktionieren könne. Der BBC-Autor zitiert dazu Pierre Haroche; ihm zufolge könnten mit atomaren Marschflugkörpern bewaffnete Kampfjets in Ländern wie Deutschland oder Polen stationiert werden: „Die Entscheidung, ob sie den Abzug betätigen, läge zwar immer noch beim französischen Präsidenten, aber ihre Präsenz wäre ein starkes Signal“, sagt der Politikwissenschaftler von der Katholischen Universität Lille gegenüber der BBC. Oder die Flieger könnten verstärkt entlang der Nato-Grenze patrouillieren.

Ohnehin ist die Luftabwehr die weiche Flanke der Nato – viel zu wenig von allem, das auch noch schlecht miteinander verzahnt ist. Rund 450 Millionen Menschen beträgt die Gesamtbevölkerung der Europäischen Union, verteilt auf vier Millionen Quadraktkilometer; Malta müsste genauso von dem atomaren Schutz profitieren wie das europäische „Kerngebiet“ Deutschland. Eine Herkulesaufgabe – die wohl auch zeitnah zu erledigen sein müsste, wenn auf Russlands Expansionismus geantwortet werden solle. Und würde sich das Vereinigte Königreich trotz des Brexits außerhalb eines gesamteuropäischen „Atomschirmes“ darunter einordnen wollen oder lieber außen vor bleiben?

Die Idee einer Europäisierung der französischen Nuklearwaffen sei „eine der Lebenslügen der deutschen Sicherheitsdebatte“, behauptet Michael Rühle. „Einladungen an Berlin zu einem ‚nuklearen Dialog‘ mit Paris sind deshalb auch keine konkreten Angebote zur Ausweitung des französischen Nuklearschirms auf Deutschland. Sie dienen lediglich dazu, die antinuklearen Reflexe des Nachbarn einzuhegen“, schreibt der ehemalige hochrangige Abteilungsleiter der Nato. Ihm zufolge wolle Frankreich die Nachbarländer offenbar motivieren, deren Ablehnung von Atomwaffen aufzuweichen.

Nach Trumps Rückzieher: „Frankreichs unabhängige Abschreckung stärkt die Nato insgesamt“

Wobei sich Deutschland bereits mit der Stationierung konventioneller Waffen anderer Länder schwer tut, wie die Debatte des vergangenen Jahres um die „Deckung der Fähigkeitslücke“ der Nato mit konventionellen US-amerikanischen Tomahawk-Raketen auf deutschem Boden nachdrücklich bewiesen hat. Glaubwürdige nukleare Abschreckung bedinge aber konventionelle Stärke, behauptet Michael Rühle. „Nukleare Abschreckung wirkt nur, wenn es um existenzielle Interessen geht, bietet aber keinen Schutz gegen Angriffe eines Gegners, der nur begrenzte Ziele verfolgt“, schreibt er. „Damit wird deutlich, dass eine Investition in Nuklearwaffen ohne Stärkung der konventionellen Fähigkeiten die Sicherheit Europas kaum verbessert.“

Rühle sieht in den verzweifelten Anstrengungen der einzelnen europäischen Länder um eine Erhöhung ihrer Verteidigungsetats das deutliche Indiz dafür, dass beispielsweise ein europäisches Nuklearprogramm „praktisch nicht finanzierbar“ sei. Somit bleibe Frankreich unter den europäischen Ländern die Ausnahme und beharre bis jetzt auf seinem atomaren Sonderstatus, wie das Bulletin of the Atomic Scientists noch im vergangenen Jahr unterstrichen hat: Frankreich bleibe noch immer in der Nuklearen Planungsgruppe der Nato außen vor – auch als unbeugsamer Befürworter einer atomaren Abschreckungs-Doktrin.

„Frankreichs unabhängige Abschreckung stärkt die Nato insgesamt, weil sie die Kalkulation der Gegner komplizierter macht. Zwar ist die nukleare Abschreckung ein Eckpfeiler der Abschreckungsstrategie der Nato, doch das lässt sich von der Europäischen Union nicht behaupten: In vielen Mitgliedstaaten herrscht nach wie vor Unklarheit über die Rolle von Atomwaffen in der Verteidigungsplanung“, so das Bulletin.

Erstes Ergebnis des Ukraine-Krieges: Europas neue Sicherheitsarchitektur ohne US-Amerikaner

Dessen Autoren fürchten in diesem Zusammenhang, dass die französischen Ambitionen ohne entsprechenden Widerhall in den einzelnen Länderregierungen das eigene atomare Drohpotenzial überdehnen könnte und damit die Glaubwürdigkeit der eigenen nuklearen Abschreckung Frankreichs auf die Probe stellen, so das Bulletin. „Ist Macron bereit, Paris gegen Helsinki einzutauschen?“, fragen deren Autoren Carine Guerout und Jason Moyer, um sich die Antwort quasi selbst zu geben, beziehungsweise ohne ein klares „Ja“ herleiten zu können.

Joseph de Weck stellt aber klar, dass Frankreich die Kontrolle über ihre „Force de frappe“ nie aufzugeben gedenkt, sondern gemeinsam erarbeiten will, wie Europas neue Sicherheitsarchitektur ohne US-Amerikaner gestaltet sein könnte. Laut den Autoren von Internationale Politik Quarterly fehle den Europäern die Zeit für eine ausgefeilte europäische Sicherheitsarchitektur, die dennoch so nötig ist wie lange nicht mehr.

Frankreich und sein Staatspräsident schicken sich an, Europa unter einen Hut zu bekommen – was die Europäische Union möglicherweise mit Erleichterung zur Kenntnis nimmt, wie deren Vizepräsidentin auf ihrem X-Kanal im Zusammenhang mit Donald Trumps und seines Vizes J. D. Vance rüdem Auftreten geäußert hat: „Heute ist klar geworden, dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht“, so die Estin Kaja Kallas. „Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen.“

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