Expertin fordert Steuererhöhungen: „Es fehlt nicht am Rückhalt der Bevölkerung, sondern am politischen Willen“

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Steuerexpertin Julia Jirmann fordert radikale Reformen. Milliardenerben zahlen fast keine Steuern. 80 Prozent der Deutschen unterstützen eine Vermögensteuer.

Berlin – Die Debatte um höhere Steuern für Reiche spaltet die Koalition. Während Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) Steuererhöhungen nicht ausschließt, reagiert die Union mit scharfer Kritik. Steuerexpertin Julia Jirmann vom Netzwerk Steuergerechtigkeit sieht darin eine überfällige Diskussion und fordert ein Ende der Privilegien für Superreiche.

Im ZDF-Sommerinterview machte Finanzminister Klingbeil auf die Frage nach höheren Steuern für Topverdiener deutlich: „Da wird keine Option vom Tisch genommen“. Angesichts einer drohenden Haushaltslücke von 30 Milliarden Euro im Jahr 2027 müsse ein Gesamtpaket geschnürt werden. „Ich finde, es ist etwas, wo sich gerade Menschen mit hohen Einkommen, hohen Vermögen auch fragen müssen, welchen Teil tragen wir dazu bei, dass dieses Land gerechter wird“, ergänzte Klingbeil.

Union reagiert mit scharfer Kritik auf Steuerpläne: Koalitionsvertrag sieht keine höheren Steuern vor

Die Reaktion der Unionsparteien ließ nicht lange auf sich warten. CSU-Chef Markus Söder kritisierte laut BR24: „Steuererhöhungen sind Gift für die Konjunktur.“ Der Koalitionsvertrag habe bewusst gegen Steuererhöhungen entschieden. Unionsfraktionschef Jens Spahn betonte: „Das ist jetzt nicht die Zeit, um über Steuererhöhungen auch nur nachzudenken.“ Deutschland sei bereits ein Hochsteuerland mit den zweithöchsten Steuer- und Sozialabgaben im OECD-Vergleich, so der Parlamentarische Geschäftsführer Steffen Bilger unisono.

Julia Jirmann, Referentin für Steuerrecht beim Netzwerk Steuergerechtigkeit, sieht in der Debatte einen überfälligen Schritt. „Wer große Unternehmen oder Unternehmensanteile erbt oder geschenkt bekommt, ist weitgehend von der Erbschaftsteuer ausgenommen“, erklärte sie in einem Interview gegenüber t-online.de. Besonders kritisiert Jirmann die sogenannte Verschonungsbedarfsprüfung: „Selbst Milliardenerben können einen Steuererlass erhalten, indem sie sich vor dem Finanzamt ‚arm‘ rechnen“, so die Expertin. Währenddessen zahle die obere Mittelschicht durchaus Erbschaftsteuer.

Das Mythos-Argument Arbeitsplätze: Vermögensteuer schadet nicht der Wirtschaft

Gegen das Argument, eine Vermögensteuer koste Arbeitsplätze, wendet Jirmann ein: „Auch das ist ein Mythos.“ Große Unternehmen würden seit Jahren kaum noch in Deutschland investieren, sondern ihre Gewinne am Finanz- und Immobilienmarkt anlegen. „Eine Vermögensteuer würde Einnahmen generieren, die hierzulande in Bildung, Infrastruktur oder Pflege fließen könnten“, argumentiert die Wirtschaftsjuristin und gelernte Betriebs- und Volkswirtin. Studien, die vor Wachstumsverlusten warnen, ignorierten genau diesen Punkt.

Auch die Befürchtung, Reiche könnten das Land verlassen, hält Jirmann für unbegründet. „Wer Deutschland verlässt und seine Anteile am Unternehmen mitnimmt, muss schon heute eine hohe Wegzugsteuer zahlen“, erklärt sie. Bei Superreichen wären das teilweise mehrere Milliarden Euro.

Bei Steuern anderer Meinung: Finanzminister Lars Klingbeil (l., SPD) Bundeskanzler Friedrich Merz (M.) und Kanzleramtschef Thorsten Frei (beide CDU).
Bei Steuern anderer Meinung: Finanzminister Lars Klingbeil (l., SPD) Bundeskanzler Friedrich Merz (M.) und Kanzleramtschef Thorsten Frei (beide CDU). © IMAGO/dts Nachrichtenagentur

Bevölkerung unterstützt Reform: Erbschaftsteuer über Jahrzehnte strecken

Trotz Lobbyarbeit gegen höhere Steuern für Reiche zeigen Umfragen laut Jirmann ein klares Bild: „80 bis 90 Prozent der Menschen sprechen sich für eine Vermögensteuer aus.“ Das Problem liege nicht am fehlenden Rückhalt in der Bevölkerung, sondern am politischen Willen. Viele Menschen fielen auf Mythen herein, „dass der Staat ohnehin nur Geld verschwende und Superreiche das Geld besser einsetzen“, kritisiert die Expertin. Diese Erzählung werde von Lobbygruppen bewusst eingesetzt.

Für eine Reform der Erbschaftsteuer schlägt Jirmann vor, die Steuerschuld über 10, 20 oder 30 Jahre zu strecken. „Dann werden die Steuern aus den laufenden Gewinnen gezahlt, und kein Unternehmen wird deshalb Probleme bekommen“, erklärt sie. „Warum sollten wir den Erben der Unternehmen nicht zutrauen, wenigstens einen kleinen Teil dessen zu zahlen, was Gründer aufbringen müssen?“, fragt die Steuerexpertin gegenüber t-online.de. Auf die Frage nach der wichtigsten steuerpolitischen Maßnahme antwortet Jirmann eindeutig: „Ganz klar: die Abschaffung dieser Erbschaftsteuer-Ausnahmen.“ Das wäre keine große Umverteilung, sondern der erste Schritt zu mehr Steuergerechtigkeit. Ob sich Finanzminister und Vizekanzler Klingbeils Vorstoß durchsetzt, wird sich in den kommenden Haushaltsverhandlungen zeigen. (ls/dpa)

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