Warum Sie beim Deuten verschränkter Arme wahrscheinlich falsch liegen

Es ist einer dieser hartnäckigen Mythen, die sich erstaunlich lange halten: „Wer die Arme verschränkt, lehnt ab, grenzt sich ab oder blockt innerlich ab.“  Der Ursprung dieser Pauschalaussage ist weder jahrzehntelange Feldforschung noch ein universell gültiges psychologisches Gesetz. Tatsächlich basiert sie auf einem Übersetzungsfehler durch einen Autor. Im Originaltext war die Aussage deutlich differenzierter: Das Verschränken der Arme bedeutet Abschottung und nicht Ablehnung. Doch auf dem Weg durch Übersetzungen und Vereinfachungen wurde daraus eine absolute Regel. Leider eine falsche.

Ein alltäglicher Irrtum

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Kollege sitzt in einer Besprechung, Arme verschränkt. Die „Mythos-Brille“ flüstert: „Der ist gegen meinen Vorschlag.“ Tatsächlich denkt er aber vielleicht nur intensiv nach, friert leicht oder empfindet diese Haltung als bequem. Ohne Kontext und ohne Kenntnis seiner Baseline, seines neutralen, gewohnheitsmäßigen Verhaltens der Körpersprache, ist jede Interpretation riskant und meist fehlerhaft.

Joern Kettler ist Wirtschaftspsychologe, Mimik-Analyst und Bestsellerautor. Als Körpersprachen- und Lügenexperte begeistert er seit über 25 Jahren mit präzisen Analysen und klaren Botschaften. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Baseline – der Schlüssel zur korrekten Deutung

Jeder Mensch hat individuelle körpersprachliche Muster, die sich in entspannten und neutralen Momenten zeigen. Für manche ist es typisch, beim Zuhören die Arme zu verschränken, andere tippen mit dem Fuß oder schauen häufig aus dem Fenster. Diese Muster sind nicht automatisch Ausdruck einer bestimmten Emotion. Wer die Baseline ignoriert, läuft Gefahr, Gesten zu überinterpretieren und damit Beziehungen oder Situationen unnötig zu belasten.

Der Selbstüberwachungs-Fallstrick

Interessant ist, dass der Mythos nicht nur zur Fehlinterpretation anderer führt, sondern auch das eigene Verhalten beeinflussen kann. Viele Menschen, die den Mythos kennen, versuchen krampfhaft, ihre Arme nie zu verschränken, um „offen“ zu wirken.

Das Problem: Permanente Selbstüberwachung bindet Aufmerksamkeit. Während man darüber nachdenkt, wo die Arme jetzt „richtig“ sind, entgehen einem wichtige Gesprächsinhalte. Das Ergebnis ist oft das Gegenteil von Offenheit, nämlich eine angespannte und unnatürliche Präsenz. Das irritiert mein Gegenüber in der Regel stark und dadurch wirke ich weniger kompetent.

Körpersprache ist mehrdimensional

Wer Körpersprache fundiert verstehen will, darf sich nie auf ein einzelnes Signal verlassen. Profis betrachten acht Kanäle gleichzeitig:

  • Mimik: kleinste Bewegungen im Gesicht
  • Kopfhaltung: Neigung, Ausrichtung
  • Gestik: Bewegungen der Hände und Arme
  • Fuß- und Beinverhalten: oft unbewusster als man denkt, jedoch nicht der ehrlichste Teil des Körper (ein weiterer Mythos)
  • Körperhaltung: offen, geschlossen, aufgerichtet, gebeugt
  • Psychophysiologie: Atem, Puls, Hautreaktionen
  • Stimme: Lautstärke, Tonhöhe, Tempo
  • Interpersonelles Bewegungsverhalten: Distanz, Annäherung, Synchronität

Ein einzelnes Signal ist wie ein einzelnes Wort, ohne den Satz drumherum kann es eine völlig andere Bedeutung haben.

Verschiedene Motive für verschränkte Arme

Forschungsarbeiten zeigen, dass die gleiche Haltung aus sehr unterschiedlichen Gründen eingenommen werden kann:

  • Defensive oder submissive Haltung – Schutzmechanismus in unbekannten oder unangenehmen Situationen, in Verbindung mit weiteren mimischen Signalen
  • Stolz oder Überlegenheit – bewusste Selbstfokussierung und Betonung der eigenen Stärke
  • Hohe Konzentration – Unterstützung der kognitiven Fokussierung bei komplexen Aufgaben
  • Ekel oder Ablehnung – deutliche innere Distanz, immer in Kombination mit weiteren mimischen Signalen

Das bedeutet: Eine verschränkte Armhaltung kann von „Ich überlege gerade“ bis zu „Mir ist kalt“ alles ausdrücken und nur in bestimmten Kontexten tatsächlich Distanz. Vor allem bedeutet es jedoch oft, dass mein Gegenüber sich darauf konzentriert mir zuzuhören, was wiederum ein Wunschsignal in der Kommunikation ist.

Eine kurze Geschichte zur Veranschaulichung

Hannah arbeitet in einem großen Unternehmen. In einer Teamsitzung bemerkt sie, dass ihr Vorgesetzter mit verschränkten Armen dasitzt. Sie erinnert sich an einen Körpersprache-Artikel, den sie vor Jahren gelesen hat und interpretiert die Haltung als stillen Widerspruch zu ihrem Vorschlag. Verunsichert spricht sie weniger, beteiligt sich kaum noch und ärgert sich später über ihre Zurückhaltung.

Einige Tage später spricht sie ihn darauf an. Seine Antwort: „Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich die Arme verschränkt hatte, mir war einfach kalt, die Klimaanlage lief zu stark.“

Hannah wird klar: Ihre Interpretation war reine Projektion. Erst jetzt beginnt sie, bewusst auf weitere Signale, auf seine Mimik, den Tonfall und den Gesprächskontext zu achten und sie erkennt, wie oft ein einzelnes Körpersprache-Signal sie bisher auf falsche Fährten geführt hat.

Fazit – weg vom Schnellurteil

Das Verschränken der Arme ist kein universelles Zeichen für Ablehnung oder Distanzierung. Es kann diese Bedeutung haben, aber ebenso gut Bequemlichkeit, Konzentration oder ein Temperaturempfinden widerspiegeln. Der Mythos lebt, weil er einfach klingt und sofortige „Erkenntnis“ verspricht. Doch wer fundiert Körpersprache deuten will, braucht mehr: Kenntnis der Baseline, Beobachtung mehrerer Signalkanäle und den Mut, im Zweifel nachzufragen.