Bürgergeld-Nullrunde droht auch 2026: Empfänger rutschen in „drastische“ Armut

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Beim Bürgergeld droht eine Nullrunde, die Höhe bleibt gleich. Verbände warnen vor einer Verschärfung der Armut – und fordern die Merz-Regierung zum Handeln auf.

Berlin – Wenn die Bundesregierung „nicht umgehen handelt“, komme es für die Beziehenden von Bürgergeld im kommenden Jahr zu einer Nullrunde, warnte der Paritätische Gesamtverband. „Trotz steigender Lebenshaltungskosten könnte der Regelsatz auch 2026 gleichbleibend bei lediglich 563 Euro liegen“, so die Erklärung. Die Forderung: „Die Koalition ist angehalten, dies abzuwenden und eine Nullrunde zu verhindern.“

Bürgergeld-Höhe „viel zu niedrig“: Verband richtet dringende Forderung an Merz-Regierung

„Die Regelsätze im Bürgergeld sind viel zu niedrig“, erklärte der Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. „Eigentlich habe die Bundesregierung im Koalitionsvertrag zumindest geringfügige Verbesserungen versprechen“, so Rock. „Wir warten auf die Umsetzung dieser Versprechen und die Zeit drängt.“

Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, fordert die Merz-Regierung zum Handeln auf, um eine weitere Nullrunde beim Bürgergeld zu verhindern. (Montage) © Kay Nietfeld/dpa/Paritätischer Gesamtverband

Die Entwicklung des Regelsatzes betrifft jedoch nicht nur Bürgergeld-Beziehende. Auch für einige Rentnerinnen und Rentner hätte eine Nullrunde Folgen. Konkret betrifft sie das, wenn sie wegen zu geringen Renten ihr Existenzminimum nicht selbst decken können und damit Anspruch auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung haben. Denn deren Höhe entspricht dem Regelsatz des Bürgergelds.

Union und SPD wollen Berechnung der Bürgergeld-Höhe anpassen – würde 12 Euro mehr bedeuten

Die Regierung unter Kanzler Friedrich Merz plant eine Änderung der Regeln, wie die Höhe der Grundsicherung jährlich angepasst wird. Im Koalitionsvertrag haben sich Union und SPD darauf verständig, „den Anpassungsmechanismus der Regelsätze in Bezug auf die Inflation auf den Rechtsstand vor der Corona-Pandemie zurückzuführen“. Mit Umstellung auf den sogenannten „Mischindex“ würde es laut Einschätzung des Paritätischen Gesamtverbands aktuell eine Bürgergeld-Erhöhung um 12 Euro pro Monat bedeuten. Damit würde der Regelsatz für Alleinstehende bei 575 Euro liegen – ein Ausgleich der „inflationsbedingten“ Kostensteigerungen, wie Rock erklärte.

Mit Blick auf das kommende Jahr ist der Partitätische Gesamtverband jedoch pessimistisch: „Derzeit deutet nichts darauf hin, dass dieses Vorhaben zeitnah umgesetzt wird.“

„Eine weitere Nullrunde beim Bürgergeld und der Grundsicherung wäre fatal“

„Eine weitere Nullrunde beim Bürgergeld und der Grundsicherung wäre fatal“, erklärte Michaela Engelmeier, Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD) IPPEN.MEDIA. „Durch die anhaltende Inflationsrate von zwei Prozent würden die Regelsätze weiter entwertet.“ Viele Leistungsbeziehende würden bereits jetzt in die Sozialberatungsstellen kommen und „wissen nicht, wie sie ihre Stromrechnung oder den nächsten Lebensmitteleinkauf bezahlen sollen“, so Engelmeier.

„Eine zögerliche Anpassung der Regelsätze an die Inflation führt zu erheblichen Kaufkraftverlusten, die die Armut drastisch verschärfen“, sagte die Sozialverbandschefin. Es brauche einen Mechanismus, der „Peissteigerungen möglichst zeitnah berücksichtigt“.

Bürgergeld-Höhe 2026 steht laut Arbeitsministerium noch nicht fest

Das Bundesarbeitsministerium äußerte sich nicht zur konkreten Höhe der Grundsicherung im kommenden Jahr. „Wie hoch die Fortschreibung der Regelbedarfe zum 1. Januar 2026 ausfallen wird, steht derzeit noch nicht fest“, sagte ein Sprecher auf Nachfrage. „Die Berechnung erfolgt nach einer gesetzlich festgelegten Methodik, sobald alle dafür erforderlichen Daten des Statistischen Bundesamtes vorliegen.“

Mit Blick auf die geplante Änderung der Anpassungsregeln für die Regelsatz-Höhe verwies das Ministerium auf den geplanten Gesetzentwurf zur Reform, der im Herbst erscheinen soll. „Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung bleibt daher abzuwarten“, erklärte der Sprecher.

WSI-Direktorin Kohlrausch sieht grundsätzlicheres Problem bei der Bürgergeld-Höhe

Doch der Paritätische Wohlfahrtsverband ist mit der Erwartung einer weiteren Nullrunde bei der Bürgergeld-Höhe nicht allein. Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ist zu diesem Schluss gekommen. „Eine Nullrunde steht zu befürchten“, sagte Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Kohlrausch sieht das Problem bei der Bürgergeld-Höhe jedoch grundsätzlicher. „Schon die Berechnungsgrundlage des Bürgergelds ist in vielerlei Hinsicht problematisch, weil das Vorgehen in sich nicht konsistent und statistisch problematisch ist“, sagte die WSI-Direktorin. Dabei werde ein Statistikmodell „relativ willkürlich“ mit einem Warenkorbmodell gemischt. „Diese Kritik geht also über die Frage der Anpassung an Lohnentwicklung und Inflation, die aktuell diskutiert wird, weit hinaus und wird von Armutsforschern und -forscherinnen schon seit vielen Jahren genannt.“

Referenzgruppe bei Bürgergeld-Berechnung hat bereits selbst Anspruch auf Sozialleistungen

„Bei der Berechnung des Bürgergeldes orientiert man sich an dem, was das untere Fünftel der Bevölkerung ausgibt“, so Kohlrausch. „Das ist statistisch problematisch, weil hier auch Menschen in die Referenzgruppe einbezogen werden, die eigentlich Anrecht auf Wohngeld oder Kinderzuschläge oder andere Sozialleistungen hätten, diese aus Unwissen oder Scham aber nicht in Anspruch nehmen.“

Damit werde versteckte Armut nicht berücksichtigt und der Bedarf systematisch unterschätzt. „In einem zweiten Schritt werden dann relativ willkürlich bestimmte Posten generell gestrichen, unter anderem für Taschen, Regenschirme, das Eis in der Eisdiele, Pflanzen und Tierfutter.“

Expertin fordert „Herbst der Reformen“ zu nutzen, um Bürgergeld-Berechnung anzupassen

„Daher wäre es, wenn schon vom ‚Herbst der Reformen‘ in der Sozialpolitik die Rede ist, sinnvoll, dieses Thema endlich mal anzugehen“, erklärte Kohlrausch. Bei Grundbedarfen wie Nahrungsmitteln solle sich der Regelsatz eher über Abweichungen von der Einkommensmitte orientieren. „Zum Beispiel sollten Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Ernährung, Bekleidung und Wohnen um nicht mehr als 25 Prozent, für sonstige Bedürfnisse nicht mehr als 40 Prozent von der Mitte nach unten abweichen“, so der Ratschlag der Expertin.

Nach Ansicht des Paritätischen Gesamtverbands liege ein „armutsfestes Bürgergeld“ bei mindestens 813 Euro für Alleinlebende. Erst ab diesem Betrag könne man „von einer echten Existenzsicherung“ sprechen.

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