- Im Video oben: Regierung prüft Streichung von Pflegegrad 1
Andrea Peters leidet unter Muskelschwäche. Ohne Pflegegeld hat sich die 44-Jährige ständig „in der Schuld“ gefühlt, wenn Freunde ihr geholfen haben. Jetzt kann sie sich mit einem schönen Essen oder einem kleinen Obolus revanchieren. Eine Win-win-Situation oder, wie Peters sagt, „Voraussetzung für mehr gesellschaftliche Teilhabe“. Doch mit dem „Herbst der Reformen“ droht nun ausgerechnet diese sogenannte „Entlastungspflege“ wegzufallen, von der viele Pflegebedürftige profitieren.
Pflegestufe 1: "Viele pflegebedürftige Menschen schämen sich"
FOCUS online: Der angekündigte „Herbst der Reformen“ startet mit der Ankündigung einer möglichen Komplettstreichung von Pflegestufe 1. Das ist die Pflegestufe, die Sie haben, richtig?
Andrea Peters: Nicht mehr, inzwischen bin ich bei Pflegegrad 2. Aber wenn es nach dem Willen der Pflegekasse gegangen wäre, wäre ich wohl noch immer bei Grad 1. Gefühlt bekommt den fast jeder, der Pflegegeld beantragt. Ich kenne jedenfalls eine Reihe von Leuten, die das getan haben, und alle sind sie erst mal beim Grad 1 gelandet. Mein Eindruck: Man versucht, die Leistungen so weit wie möglich runterzurechnen. Man will sparen.
Und nicht wirklich unterstützen, meinen Sie?
Wenn man wirklich unterstützen, helfen wollte, würde man es uns Pflegebedürftigen nicht so schwer machen. Die Wahrheit ist: Viele pflegebedürftige Menschen schämen sich, Leistungen in Anspruch zu nehmen. „Ich brauche das doch nicht“ – Sie glauben gar nicht, wie oft ich diesen Satz von Betroffenen höre. Mit den drohenden Kürzungen dürfte das schlechte Gewissen bei der Antragstellung noch lauter werden. Dabei ist es genau falsch, zu denken, dass man die Unterstützung nicht braucht. Ich selbst bin übrigens auch so jemand. Ich habe einen Gendefekt, damit bin ich zur Welt gekommen. Pflegegeld habe ich aber erst vor zwei Jahren beantragt.
"Ich war als komplett arbeitsunfähig eingestuft worden"
Warum so spät?
Eben, wegen der Scham. Meine Krankheit zeichnet sich durch eine starke Muskelschwäche aus. Die sieht man mir auf den ersten Blick nicht immer an, wie viele andere Erkrankungen anderer Menschen auch nicht. Pflegebedürftigkeit beginnt für viele erst, wenn jemand bettlägerig ist. Das ist falsch. Treppenlaufen beispielsweise ist für mich eine Tortur. Oder Einkaufen. Oder mir die Haare färben.
Besonders wenn ich über Kopf gegen die Schwerkraft arbeiten muss, wird es richtig schwierig, da brauche ich Hilfe. Das war schon immer so. Und schon immer habe ich mich damit schwergetan, Unterstützung anzunehmen. Damit bin ich übrigens nicht allein. Die meisten pflegebedürftigen Menschen behalten die schlechten Momente in der Regel lieber für sich. Dazu kommt: Bevor ich irgendwo hingehe, kläre ich immer erst die örtlichen Gegebenheiten: Gibt es eine barrierefreie Toilette? Wenn das nicht der Fall ist, spare ich mir den Aufwand oft von vornherein und bleibe zu Hause.
Was meinen Sie mit, man behält die schlechten Momente „in der Regel“ lieber für sich?
Naja, als ich den Pflegegrad beantragt habe, galt es natürlich, nichts zu beschönigen. Nach all den Jahren, in denen mich mein Umfeld immer als Kämpferin gesehen hat und in denen ich mich dann nach außen entsprechend geben wollte, war das eine ungewöhnliche Situation.
Sind Sie eine Kämpferin?
Auf eine Art wohl schon. Bis zu meinem 25. Lebensjahr war ich berentet. Ich war als komplett arbeitsunfähig eingestuft worden. In der Behindertenwerkstatt war es mir aber zu langweilig. Schrauben Sie mal den ganzen Tag Kugelschreiber zusammen, dann wissen Sie, was ich meine. Ich wollte arbeiten! Doch das war gar nicht so einfach…
"Ich ahne schon, was manche jetzt wieder denken"
Warum?
Ehrliche Antwort? Ich glaube, die Leute, die fit sind, versucht man mit aller Kraft in den Werkstätten zu behalten. Das ist ein wirtschaftliches Unterfangen. Als ich angefangen habe, mich im Bereich Fußpflege weiterzubilden, hat mich die Rentenkasse rausgeworfen. In der Folge bin ich in Hartz IV gerutscht. Einen Gründungszuschuss zur Ich-AG bekam ich nicht – ich sei schließlich arbeitsunfähig, hieß es. 2010 habe ich mich trotz allem selbstständig gemacht, habe ein Zimmer in meiner Wohnung kurzerhand zum Behandlungsraum umfunktioniert. Ich habe alles meinen Bedürfnissen angepasst. Wichtig ist zum Beispiel, dass ich alles auf einer Höhe habe. So schaffe ich es, mit ausgiebigen Pausen, rund 5 Stunden pro Tag zu arbeiten. Ich ahne schon, was manche jetzt wieder denken…
Was denn?
Wenn sie das kann, warum braucht sie dann Pflegegeld?
Was antworten Sie?
Es geht um Teilhabe. So viel wie möglich selbst schaffen zu wollen, so wie ich, das ist das eine. Teil der Gesellschaft sein zu wollen, das ist das andere.
Aber das sind Sie ja, wenn Sie arbeiten?
Die Arbeit ist nur ein Bereich des Lebens. Teilhabe bedeutet für mich genauso, mal zu einem Konzert zu gehen. Oder im Frühling im Garten zu werkeln. Blumen pflanzen, Steine abkratzen, die Hände in der Erde – herrlich. Nein, das sind nicht nur Dinge, die erledigt werden müssen, das ist auch Balsam für die Seele. Und fürs Zwischenmenschliche. Man denke nur an den kleinen Plausch mit dem Nachbarn, der sich dabei ergibt.
Fakt ist: Ohne Hilfe schaffe ich diese Dinge nicht. Mit Pflegestufe 2 bekomme ich mittlerweile monatlich 347 Euro. Darin enthalten ist, genau wie bei der Pflegestufe 1, der sogenannte zweckgebundene Entlastungsbetrag von 131 Euro. Davon kann ich zum Beispiel eine Putzhilfe bezahlen. Oder auch Freunde oder Bekannte, die mir bei der Gartenarbeit zur Hand gehen. Da ich keine Familie habe – meine Mutter und mein Vater sind schon gestorben – bin ich auf liebe Menschen aus meinem Umfeld angewiesen.
"Der Entlastungsbetrag schafft hier eine andere Ebene"
Sie meinen Menschen, die Sie für die Hilfe bezahlen?
Gut, dass Sie da nachhaken. Ja, das läuft alles unter dem Begriff „pflegende Angehörige“. Wie Sie sich vielleicht denken können, ist das mit den Freundschaftsdiensten ein heikles Thema. Natürlich höre ich immer wieder „lass mal, dann nehme ich kein Geld für“. Früher habe ich Freunden, die mir geholfen haben, die Füße oder die Nägel gemacht. Auch wenn es hieß, „das brauchst du doch nicht“. Ich wollte mich nicht in der Schuld fühlen. Und auf die Hilfe verzichten, das war keine Option, denn schon die Fahrt zum Einkaufen, wenn man den Rollstuhl ins Auto heben muss, schaffe ich nicht alleine.
Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt: Wenn man die Leute zu sehr strapaziert, will keiner mehr was mit dir zu tun haben. Das wird zwar nicht direkt kommuniziert, aber man spürt es, das Umfeld macht sich rar. Der Entlastungsbetrag schafft hier eine andere Ebene. Der Kumpel, der mit mir zum Konzert geht und mir mit dem Rollstuhl hilft, bekommt von mir zum Beispiel ein Essen ausgegeben. Er weiß, dass ich mir das wegen des Entlastungsbetrages leisten kann und nimmt es daher eher an. Und ich fühle mich nicht mehr so abhängig wie bisher.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie davon gehört haben, dass der Pflegegrad 1 gestrichen werden soll?
Mein erster Gedanke war, dass jetzt noch weniger Menschen, denen dieses Geld zustehen würde, über ihren Schatten springen und den Antrag stellen. Mein zweiter Gedanke war, dass Deutschland damit noch behindertenfeindlicher wird.
Haben Sie den Eindruck, dass Deutschland behindertenfeindlich ist?
Diesen Eindruck habe ich ganz eindeutig. Ich lebe nur 4 Kilometer von der holländischen Grenze entfernt, bin viel in den Niederlanden. Und ich sage Ihnen: Das sind Welten! Überall gibt es Rampen, überall gibt es nette, hilfsbereite Menschen. Hier in Deutschland ist es so: Du rufst bei der Bahn an, damit sie dich mit dem Rolli mitnehmen. Dann fällt der Zug aus. Und im nächsten nehmen sie dich nicht mit, weil sie sagen: „Sie sind nicht angemeldet“. Manche, die das am Bahnsteig mitbekommen, empören sich dann. Für mich aber ist das eigentlich Empörende das, was da gerade in Berlin passiert. Dass der angekündigte Herbst der Reformen ausgerechnet bei den Schwächsten ansetzt, macht mich fassungslos.
Befürworter der angedachten Kürzungen sagen, die körperlichen oder auch geistigen Einschränkungen würden beim Pflegegeld 1 noch nicht besonders schwer wiegen…
Dem widerspreche ich. Zum einen hat man auch mich, wie gesagt, genau hier gesehen – und meine Einschränkungen waren vor zwei Jahren nicht kleiner als heute. Zum anderen mag es zwar stimmen, dass ein großer Teil der Betroffenen nicht oder noch nicht rund um die Uhr auf eine pflegerische Betreuung angewiesen ist. Aber noch mal: Der Entlastungsbetrag gibt diesen Menschen Freiheit. Wie gesagt: Das Pflegegeld hilft mir, Dinge zu tun, die mich Teil der Gesellschaft sein lassen. Das ist so wichtig fürs Wohlbefinden, für die Gesundheit! Nach ein paar Stunden im Garten bin ich ein anderer Mensch. Böse Stimmen behaupten, ich sei dann ja wohl gar nicht so krank, wenn ich so aktiv sei. Wer nur Ausschnitte sieht, nur mich mit der Harke im Beet und nicht den Bekannten, der die dafür notwendige Erde mit der Schubkarre bringt, der mag diesen Eindruck gewinnen.
"Wir können Teil der Gesellschaft sein – und bleiben"
Das tut bestimmt weh, so was zu hören?
Natürlich. Aber wissen Sie, was noch viel schlimmer ist? Sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen. Sich nichts mehr zuzutrauen. Immer weniger Sozialkontakte haben. Genau das ist der bittere Alltag vieler pflegebedürftiger Menschen. Der Pflegegrad und die mit ihm verbundenen finanziellen Mittel holen aus der Scham, aus der Abhängigkeit. Wir können Teil der Gesellschaft sein – und bleiben.
Letzteres betonen Sie?
Ja, denn auch in diesem Punkt ist die aktuelle Diskussion viel zu kurz gedacht. Wer Menschen bereits bei einem geringen Pflegebedarf hilft, verhindert, dass sie schon bald richtig hilflos sind. Ich sage Ihnen, wie es ist: Ohne meine Arbeit, ohne meine Freunde, ohne meinen Garten… ich würde verkümmern. Mal angenommen, ich hätte mich seinerzeit mit meiner Arbeitsunfähigkeit arrangiert: Ich bezweifle, dass ich heute ein Leben führen würde, wie ich es tue. Im schlimmsten Fall wäre ich vielleicht sogar schon im Pflegeheim. Sie wissen schon… so ein Platz kostet monatlich 5000 € oder mehr. Ob die Politiker, die glauben, über die Kürzung des Pflegegrades Geld sparen zu können, die Rechnung wirklich zu Ende gedacht haben?
Sie haben eben gesagt, dass Sie den Pflegegrad 1 nur vorübergehend hatten. Wie kam es, dass Sie schließlich bei Grad 2 eingestuft wurden?
Diese Sache macht mich noch immer wütend. Wie gesagt, es hat mich einiges an Überwindung gekostet, dem Gutachter meine Einschränkungen ehrlich und ungefiltert darzulegen. Mich eben nicht von meiner besten Seite zu zeigen, sondern von der ehrlichen Seite. Ich habe gesagt, dass ich nachts schlecht schlafe, weil ich beim Liegen schwer Luft bekomme. Ich habe auch gesagt, dass ich deswegen oft Panikattacken habe.
Als das Schreiben von der Pflegekasse kam, traute ich meinen Augen nicht. Bei Schlafproblemen stand: Keine. Bei „Ängsten“ stand: Keine. Das war der Moment, wo ich dachte: Jetzt erst recht. Wo ich bisher auf Leistungen verzichtet hatte, wollte ich jetzt das Gegenteil: maximale Leistung. Ich poste manchmal Updates auf meinem TikTok-Kanal (@selbstgemacht). Einerseits ist das eine Überwindung, das ist schließlich alles sehr privat. Andererseits möchte man sichtbar sein. Als ich damals wieder gepostet habe, hat mich der Pflegeberater der Plattform angeschrieben, er wolle mir helfen. Tatsächlich hat er dann für mich bei der Pflegekasse Einspruch eingelegt. Mit Erfolg.
Sie meinten eben, Sie würden vom Umfeld als „Kämpferin“ gesehen…
Ja, wobei dieser letzte Kampf eine andere Qualität hatte als das Kämpfen davor. Denn ich habe nicht nur für mich gekämpft, sondern für all jene, die krank sind und denen Unrecht geschieht. Die sich aber oft nicht wehren, weil ihnen dazu schlicht die Kraft fehlt. Nur mal zur Erinnerung: Noch vor wenigen Monaten hat dieselbe Koalition, die jetzt dem Pflegegrad an den Kragen will, versprochen, pflegende Angehörige künftig stärker zu unterstützen, auch finanziell.
Und nun wird um – sorry – mickrige 1,8 Milliarden Euro gefeilscht, die man genau hier einsparen will. „Alle müssen ihren Beitrag leisten, ich wiederhole: alle …“, hat Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) im Bundestag gesagt. Da, wo im März ironischerweise ein Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für die Verteidigung beschlossen wurde! Da, wo seit Jahrzehnten Änderungen bei der Vermögensteuer angekündigt werden – die aber nie kommen. Es bleibt offenbar am einfachsten, sich das Geld im Zweifel erst mal bei den Schwächsten zu holen …
