Neues „Narrenschiff“ aus München: So wird Geschichte guter Stoff

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Peter Sohler und sein „Narrenschiff“, das Teil einer Trilogie über die Abgründe der Menschheit ist. © Jens Hartmann

Der Schriftsteller Peter Sohler führt zwanglos und interpretationssicher durch die letzten 100 Jahre der Weltgeschichte. Das Buch ist ein Glücksfall, denn es eignet sich besonders gut für eine junge Leserschaft, die sonst vielleicht nicht viel liest.

Eines der erfolgreichsten deutschen Bücher aller Zeiten ist das 1494 erschienene „Narrenschiff“ des Humanisten Sebastian Brandt (1457–1521). Alles, was damals schieflief, fand Eingang in diese Satire, vor allem Politisches. Vielfach wurde dieser Roman durch die Jahrhunderte variiert, unter anderem auch von Liedermacher Reinhard Mey. Der Münchner bildende Künstler und Autor Peter Sohler hat nun eine eigene „Narrenschiff“-Variante abgeliefert: „Das Narrenschiff. Historische Ereignisse der Menschheit, die tief blicken lassen und die Antworten auf viele Fragen“. Satirisch ist das Buch nicht, aber dafür spannend, und angenehm zu lesen für die Generation Handy.

Internationale Jugendbibliothek Muenchen feiert 75-jaehriges Bestehen
Bücher, die junge Leser begeistern – wie hier in Schloss Blutenburg – werden selten. © Yannick Thedens

Sohlers Chronik durch die letzten 100 Jahre nimmt ihren Weg von den schlimmsten Kriegen über die Neueinteilung der Welt, die Industrialisierung und digitale Revolution, die wichtigsten Philosophen und Redner bis hin zur sogenannten Zeitenwende. Aber nicht im Ton eines Lehrbuchs, sondern lebensnah und interpretationsstark. Alltag und Praxis stehen stets im Mittelpunkt.

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Brutalo-Kommandant Amon Goeth aus der Nähe

So etwa im Kapitel zu Nazi-Deutschland das Gebaren des Brutalo-KZ-Kommandanten Amon Goeth, der 500 Menschen eigenhändig ermordet haben soll. Die Erzählung von der Gefangenen, die unerlaubt eine Kartoffel aß und dann von Goeth lebendig gekocht worden sein soll, wird aufgegriffen; wobei es gerade in diesem „Vom Hörensagen“ -Fall schön wäre, wenn insgesamt öfter Quellen als Beleg genannt würden (es gibt ja genügende) oder eben das Erzählte als unbestimmte Überlieferung gekennzeichnet würde.

Der Eingang zum ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz im Jahr 2010.
Auschwitz im Jahr 2010. © Wikimedia Commons/ Xiquinho

Die verbrecherischen medizinischen Experimente des Josef Mengele werden ebenfalls von der Alltagsseite her aufgegriffen. Welche Unglücklichen gerieten in seine Fänge, welche bestimmte er für den sofortigen Tod? Sohler beschreibt den Prozess der Selektion, den Mengele in Auschwitz bei der Ankunft neuer Gefangener anwendete. Unter anderem stellte er einen Rahmen auf, durch den gefangene Kinder gehen mussten, und wer nicht anstieß, also zu klein war, wurde erschossen. Die Mengele-Überlebende Eva Mozes Kor wird zitiert. Sie erinnert sich: „Dreimal in der Woche gingen wir ins Blutlabor. Dort wurden uns Keime und Chemikalien injiziert, und sie nahmen uns viel Blut ab.“ Ein Zwillingspaar, das je ein blaues und ein graues Auge hatte, tötete Mengele mit einer Giftinjektion, um die Augäpfel zu Ausstellungszwecken nach Berlin zu schicken.

GIs baggerten die ältere Schwester an

So gibt es nirgends etwas zu relativieren. Zur Zeit der Besatzung Deutschlands durch die USA heißt es: „Von den Amis bekamen wir Kids Schokolade und Bubble-Gum (…), damit wir nicht petzten, wenn sie unsere große Schwester anbaggerten.“ Man habe fleißig geschwiegen, um den Nachschub nicht zu gefährden. So bauen Geschichten aus dem täglichen Leben bei Sohler Stück für Stück Historie.

Albert Camus krönt die Schwedische Lucia 1957
Philosoph Albert Camus – hier bei der Krönung der Schwedischen Lichterkönigin Lucia 1957 – wird in Sohlers „Narrenschiff“ ausgiebig besprochen. © Wikimedia Commons

Vorwiegend zitiert Autor Sohler Schriftsteller, Philosophen und Journalisten. Ein großes Kapitel beschreibt zum Beispiel die Weltanschauungen der Jahrhundert-Philosophen Immanuel Kant, Albert Camus, Erich Fromm, Albert Schweitzer, Albert Einstein und Konrad Lorenz, ergänzend sind ein Kapitel zu Konfuzius sowie Charlie Chaplins Rede zur Demokratie eingefügt. Alles ist sauber recherchiert, manchmal aber auch tendenziös, so etwa zur Klima-Thematik. Die Haltung des Autors ist erkennbar ökologisch dominiert, er präsentiert Verhaltensregeln des „Global Footprint Networks“ für den Alltag, die die Ökobilanz verbessern, unter anderem zum Beispiel den Umstieg vom Auto auf Lastenrad, der bekanntlich nicht für alle Mitbürger in Frage kommt.

Frei heraus erzählt zur Meinungsbildung

Insgesamt ist dieses sehr persönliche „Narrenschiff“ ein gelungener Beitrag zur Bildungsliteratur. Das Buch misst sich erst gar nicht mit der hochrangigen Konkurrenz, es erzählt einfach frei von der Leber weg. Mit Herz und Verstand bringt es den Leser – der gerne sonst ein Nicht-Leser sein kann – zu einer eigenen Meinung. Mal hat man bei Sohlers „Narrenschiff“ das Gefühl, ein respektierter älterer Verwandter erzählt, mal freut man sich über die Auswahl der Quellen, die so Griffiges und Handfestes berichten. Genau das macht guten Stoff aus. So unterhaltsam wird ein wahnsinniges Jahrhundert nicht so schnell wieder zu konsumieren sein.

Peter Sohler: „Das Narrenschiff“. Books on Demand 2024, 309 Seiten, 27,50 Euro

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