Viagra, Fentanyl, Tilidin: So boomt der lebensgefährliche Pillenhandel

Die Order der Kunden wirkte wie ein Einkaufszettel in einer Apotheke. Hier mal ein paar Dosen Ketamin, da mal das Opioid Tilidin. Die Handelsplattform "Crimemarket" glänzte als digitale Shopping-Tauschbörse für Kriminelle, die keine Wünsche offenließ. Das Angebot reichte von Drogen bis hin zu rezeptpflichtigen Medikamenten, die hier ohne ärztliche Freigabe per Post frei Haus geliefert wurden. Crime as a service. Gerade auch, wenn es um Medikamente geht. 

Medikamente mit Rauschwirkung heiß begehrt

Das Team von Markus Hartmann, Chef der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW), hat gemeinsam mit der Polizei Düsseldorf die größte illegale deutsche Verkaufsplattform Ende Februar 2024 mit zuletzt über 100.000 registrierten Kunden aus dem Internet genommen und etliche Hauptakteure auffliegen lassen.

Im Gespräch warnt der Leitende Oberstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft in Köln vor einem "Boom beim kriminellen Arzneimittelhandel". Für FOCUS online hat der Chefermittler eine stichprobenartige Auswertung der Ermittlungsergebnisse im Komplex "Crimemarket" durchführen lassen.

Das Resultat fällt eindeutig aus: Von 2000 betrachteten Nutzern weisen 800 Bezüge zum Handel mit Arzneien auf oder traten als Käufer auf. Hochgerechnet würde dies bedeuten, dass jeder dritte Crime-Market-Nutzer nicht nur andere kriminellen Dienstleistungen wie gefälschte Dokumente oder Waffen bestellte, sondern auch verschreibungspflichtige Mittel. "Meist ging es um Medikamente mit einer Rauschwirkung", erklärte Hartmann.

Enormer Suchtfaktor: Das Geschäft mit den Opioiden

So etwa Ketamin. Ein schnellwirkendes Schmerz- und Narkosemittel, das inzwischen als Partydroge gilt. Die Liste der rheinischen Strafverfolger erfasst ferner den Handel mit zahlreichen Opioiden wie Tilidin sowie dem starken Schmerzhammer Oxycodon.

Der Suchtfaktor dieser Substanzen ist enorm. Genauso wie bei Fentanyl, dem US-Suchtrauschmittel Nummer eins. Auch spielt Methadon, ein Ersatz für Heroinabhängige, auf der Online-Plattform eine Rolle. Bezahlt wurde oft in Kryptowährung oder über Treuhandkonten. Das macht es den Strafverfolgern schwieriger, die Finanzwege bis zum Konsumenten nachzuverfolgen. 

BKA: Fälschungen aus Indien, China und der Türkei

"Das Internet-Geschäft mit echten oder gefälschten Arzneimitteln wächst zusehends", sagte ein Sprecher von Europol zu FOCUS online. Demnach steuern organisierte Banden das Geschäft. Sei es mit echten Arzneien oder gefakten Medikamenten. Besonders begehrt seien Doping-Mittel, Viagra oder Abnehmspritzen.

Laut dem Bundeskriminalamt stammen "die meisten Arzneimittelfälschungen beziehungsweise nicht zugelassenen Arzneimittel vor allem aus Indien und China. Inzwischen spielen auch türkische Banden eine größere Rolle."

Die FOCUS-Titelgeschichte

  • Lennart Menkhaus

    Bildquelle: Lennart Menkhaus

    Arznei ohne Ärzte: Mit ein paar Klicks zum gefährlichen Pillen-Paket

    Im Internet ist ein gewaltiger Graumarkt für Medikamente entstanden. Eine FOCUS-Recherche auf der Spur dubioser Online-Plattformen.

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Allein 2023 sind im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW laut dem Landeskriminalamt knapp 400 Straftaten durch den illegalen Handel mit Medikamenten aktenkundig geworden.

Europol "Shield IV": 52 kriminelle Gruppierungen ausgehoben

Seit Jahren gehen die europäischen Sicherheitsbehörden gegen die Auswüchse auf dem schwarzen Pharma-Markt vor. Bereits 2023 gelang Europol in einer konzertierten Aktion unter dem Namen "Shield IV" mit Behörden aus 30 Ländern, darunter Deutschland, ein Schlag gegen die internationale Medikamenten-Mafia.

Die Bilanz ließ sich sehen: 1284 Verdächtige wurden angeklagt. 52 Gruppierungen der Organisierten Kriminalität ausgehoben. Mittel im Wert von 64 Millionen Euro wurden beschlagnahmt, darunter gut 636.000 Packungen mit illegalen Arzneimitteln und über 12 Millionen Tabletten und Pillen. Zudem wurden 92 illegale Verkaufsplattformen offline genommen.

Im schlimmsten Fall endet der Konsum tödlich

In dem Kontext zerschlugen die Ermittler in Griechenland ein kriminelles Netzwerk, das gefälschte Botox- und Vitaminsäurepräparate für kosmetische Eingriffe veräußerte. "Ein zunehmender Trend ist der Handel mit Beruhigungsmitteln oder die Verwendung gefälschter oder illegaler Medikamente gegen Diabetes", so Europol.

Oft genug lassen die Gangster die Falsifikate "in illegalen Laboren ohne jegliche Vorschriften und Sicherheitsvorkehrungen" fertigen. Die Produkte erzielen meist nicht die angekündigte Wirkung. "Im besten Fall bleibt der Patient unbehandelt", heißt es weiter. Oder aber es treten "schwerwiegende gesundheitliche Probleme ein", die sogar tödlich enden können. Im vergangenen Jahr schlugen die Arznei-Fahnder europaweit erneut zu. Waren im Wert von elf Millionen Euro wurden konfisziert.

Gefälschte Medikamente erkennen
Unterschiede zwischen echten und gefälschten Präparaten. Fälschungen sind nur schwer zu erkennen. Polizei Berlin

Wie Fälschungen in die legale Vertriebskette gelangen

Immer wieder kursieren Warnmeldungen durch die hiesigen Gesundheitsbehörden. Oft betrifft es Potenzmittel. Erst im Juli schlug das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Alarm. Gefälschtes Viagra (Sildenafil) sei möglicherweise in die legale Vertriebspipeline gelangt.

Das Amt stützte sich in seiner Mitteilung auf die italienische Zulassungsbehörde AIFA. Den Angaben zufolge hatte der Zoll in Italien 100-mg-Filmtabletten Viagra beschlagnahmt, so das Institut. Die Präparate würden die Chargennummer B714830238 mit dem Haltbarkeitsdatum (4/2017) in englischer Aufmachung tragen, diese existiere jedoch nicht als legale Charge des US-Produzenten Pfizer. "Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die gefälschte Charge in die legale Vertriebskette gelangt sein könnte beziehungsweise über illegale Vertriebswege oder über das Internet angeboten wird", so das Resümee.

Berliner Polizei warnt vor gefaktem Oxycodon

Der Medikamenten-Schwindel nimmt besorgniserregende Formen an. Erst im Oktober warnte die Berliner Polizei vor gefälschten Oxycodon- und Tafil-Tabletten, die mit extrem toxischen Substanzen versetzt sind.

So wurde etwa in den gefakten Oxycodon-Präparaten häufig der Wirkstoff Nitazene nachgewiesen. "Diese synthetischen Opioide gehören zu den stärksten Schmerzmitteln, die derzeit bekannt sind. Sie können bis zu 500-mal stärker als Heroin wirken", teilte die Polizei mit. "Tafil-Fälschungen enthalten teilweise Cyclorphin, ein ebenfalls hochpotentes Betäubungsmittel, das starke sedierende Effekte hat."

Beide Substanzen seien in Deutschland nicht für den medizinischen Gebrauch zugelassen. "Sie können in wenigen Minuten zu Atemstillstand, Bewusstlosigkeit oder tödlichen Überdosierungen führen, vor allem, wenn sie unwissentlich konsumiert werden", lautet das Fazit.

Gefälschte Medikamente: Links die Fälschung, rechts das Original. Für Verbraucher auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Polizei Berlin

Wer Verdacht schöpft oder unsicher ist, ob er gefälschte Medikamente gekauft hat, sollte sich umgehend an eine Fachstelle wenden. In Berlin bieten etwa die Drogenberatungsstellen oder auch die Fachstelle für Suchtprävention Beratung und Hilfe an.