Boxen, Wingsuiting, Fassadenklettern - Was Extremsportler wirklich antreibt: Das Geheimnis hinter „Wagnissport“

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Getty Images/RooM RF Jede sportliche Betätigung ist, schon aufgrund ihrer Intensität, mit Verletzungsgefahren verbunden.
Donnerstag, 17.10.2024, 12:09

Der Germanist und Wagnisforscher Professor Warwitz beschreibt auf der Basis seiner Erhebungen, wie ein falscher oder unbedachter Wortgebrauch Vor- und Fehlurteile begünstigen und eine sachgerechte Kommunikation behindern kann.

Das anrüchige Wort

Als ich den Extrembergsteiger Reinhold Messner in Anbetracht seiner gewagten bergsteigerischen Unternehmungen bei einer meiner Befragungen mit der Bezeichnung „Risikosportler“ konfrontierte, widersprach er mir entschieden. Er wollte sich nicht in diese Kategorie eingeordnet wissen.

Er plane und organisiere jede seiner extremen Herausforderungen sehr gewissenhaft, bereite sich physisch und mental äußerst zielgenau auf sie vor und agiere bei den zweifellos anspruchsvollen Aufgaben, die er sich stelle, umsichtig und verantwortungsbereit. Er sei kein Risiker und „spiele“ nicht mit seinem Leben. Die für ihn zutreffende Bezeichnung sei „Grenzgänger“.

Bei derselben Befragungsaktion gab der Vorsitzende des Hängegleiterverbandes zu Protokoll, dass Drachen- und Gleitschirmfliegen die risikoreichen Pionierzeiten des „Schneiders von Ulm“ längst überwunden und die Sicherheitsstandards jeder anspruchsvollen Volkssportart, etwa des Alpinen Schilaufs, erreicht hätten. Sie seien daher nicht unter „Risikosport“ einzuordnen. Das gehe -statistisch eindeutig und objektiv nachweisbar- aus der relativ geringen Unfallquote hervor.

Dem Wort „Risiko“, speziell dem Ausdruck „Risikosport“ haftet in der Tat im allgemeinen Verständnis etwas Negatives an, das dem Charakter seriöser Sportarten und Sportler nicht gerecht wird. Als ein Ergebnis meiner empirischen Erhebungen im Bereich des Extremsports, bei denen die Motivlage der Sportler einen Schwerpunkt bildete, führte ich daher zur Unterscheidung vom „Risikosport“ (den es ja auch gibt) den damit kontrastierenden Begriff „Wagnissport“ in die Diskussion ein.

Über den Experimentalpsychologen Siegbert Warwitz

Siegbert Warwitz
Siegbert Warwitz Siegbert Warwitz

Prof. Dr. phil. Siegbert A. Warwitz ist Germanist, Sportwissenschaftler, Experimentalpsychologe und Pädagoge. Im Rahmen seiner langjährigen Forschungs- und Lehrtätigkeit an einer wissenschaftlichen Hochschule beschäftigten ihn vor allem Phänomene der menschlichen Entwicklung und die Frage, welcher Einfluss dabei Faktoren wie Spiel, Abenteuer, Risiko und Wagnis zukommt. Dazu entwickelte er didaktische Modelle, wie man deren Impulse am besten in Bildungsprozessen einsetzt.

Was unterscheidet Risikosport von Wagnissport?

Bei unserer Befragung von Passanten in der Innenstadt von Karlsruhe, welche Sportformen sie als „Risikosport“ einstuften, erhielten die Studierenden Nennungen wie „Basejumping“, „Bungeejumping“, „Skydiven“, „Wingsuiting“, „Paragliding“, „Drachenfliegen“, „Militaryreiten“, „Boxen“, „Autorennen“, „Fassadenklettern“, „Canyoning“ oder „Riverrafting“. Volkssportarten wie „Abfahrtschi“, „Skaten“ oder „Fußball“ spielten bei der Auflistung keine Rolle.

Als Informationsbasis dafür wurden die Darstellung in den Medien und die - gefühlt - hohe Unfallträchtigkeit genannt. Aktivitäten wie „Gleitschirmfliegen“ und „Illegale Straßenrennen“ (Streetracing) unterschieden die Befragten in der Mehrheit lediglich nach dem Grad der angenommenen Risikobelastung. Hinsichtlich der Bewertung wurde argumentiert, dass hier wie dort („just for fun“) Leben und Gesundheit „aufs Spiel gesetzt“ würden, wo doch „safety first“ eigentlich der ethisch einzig vertretbare Grundsatz sei. Daraus ergab sich eine überwiegend negative Beurteilung aller dieser Aktivitäten.

Ein völlig anderes Bild erbrachte die Befragung der Sportler, die diese Sportformen betrieben. Diese sahen ihren Sport aufgrund ihres Kompetenzerwerbs nur mit einem geringen Risiko belastet, stuften ihn als wertvolle Betätigung ein, fühlten sich selbst keineswegs als Risiker und meinten, ihren Sport angemessen zu beherrschen.

Die für ihre Sportart minutiös geführten Statistiken wiesen gegenüber allgemein akzeptierten Risiken, etwa des Straßenverkehrs, sogar erheblich geringere Werte auf. Die Unfälle würden nur wegen ihres spektakulären Charakters in den Medien besonders herausgestellt.

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Das Phänomen Wagnissport

Jede sportliche Betätigung ist, schon aufgrund ihrer Intensität, mit Verletzungsgefahren verbunden. Als Risikosport können daher eigentlich nur Sports gelten, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer gesundheitlichen oder gar tödlichen Schädigung überproportional hoch ist, bei denen der Nervenkitzel den entscheidenden Reiz ausmacht, bei denen sich der Sportler erheblichen Unwägbarkeiten aussetzt, um das Gefühl der Angstlust auszukosten.

Das trifft auf Autorennen im Stadtverkehr zu oder etwa auch auf das Wingsuiting, bei dem die Todesrate (6/2024) auf 1:500 geschätzt wird. Es leuchtet ein, dass seriöse Sportarten wie das Segelfliegen oder Fallschirmspringen schon von ihrer Intention her in eine andere Kategorie gehören.

Diese Sportler betreiben nach meiner Definition keinen „Risikosport“, sondern einen auf Verantwortung basierenden „Wagnissport“. Der kennzeichnet sich dadurch, dass er regelmäßige Geräte-TÜVs, strenge Sicherheitsvorgaben und Verhaltensregeln sowie eine Kompetenzbildung in Form von Ausbildung, Prüfungen und Lizenzen vorschreibt und damit ein Höchstmaß an Risikoreduzierung garantiert. Es geht hier nicht um Risikosuche, sondern um Risikominimierung. Der Sportler will sich im Luftraum, in der Felswand, auf dem Pferderücken möglichst sicher bewegen und das als bereichernd erleben.

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Die Analysen der Unfallstatistiken zeigen, dass die Ursachen für Sportunfälle nur selten der Sportart anzulasten, vielmehr überwiegend einem regelwidrigen Verhalten sie ausübender Sportler zuzurechnen sind. Es ist daher unverzichtbar, zwischen „Risikosport“ und „Risikosportler“ zu unterscheiden.

Für den Risiker kann jede sportliche Betätigung, selbst das Skaten, zum Problemfall werden. Das darf bei der Unfallanalyse nicht übersehen werden. Wenn der ungeübte Reiter sich mit einem sehr braven Pferd begnügt und sich nicht an einer Fuchsjagd beteiligt, dann ist Reiten für ihn keine gefährliche Sportart. Die Parforcejagd in schwierigem Gelände, die Bewegung in einer senkrechten Wand, das Surfen im Luftraum sind nur für geübte Reiter, versierte Kletterer, sichere Parapiloten geeignete und relativ sichere Sportgelände, während sie Ungeübte überfordern.

Jeder Sport, auch der von seinen Vorgaben her relativ sichere, kann ein Risikopotenzial eröffnen, wenn der ihn betreibende Sportler seiner Verantwortung nicht gerecht wird. Das betrifft den Bergsteiger, der mit ungeeigneter Ausrüstung und ohne Wetterprognose ins Hochgebirge oder in einen Klettersteig aufbricht ebenso wie einen Paraglider, der seinen Vorstartcheck vernachlässigt oder vor der aufziehenden Wetterfront nicht rechtzeitig wieder den sicheren Boden aufsucht. Solche Fehler bestimmen überwiegend das reale Unfallgeschehen und dürfen nicht unreflektiert der Sportart zugeschrieben werden.

Resumeé

Aus dem Gesagten lassen sich drei Schlussfolgerungen ziehen:

  1. Die tatsächliche Risikobelastung eines Sports ergibt sich aus Statistiken und auf diese gestützten wissenschaftlichen Analysen, nicht aus einem subjektiven Bauchgefühl der Zuschauer oder Sportler bzw. einer Aufmachung in den Medien.
  2. Risikosport und Risikosportler sind zwei klar zu unterscheidende Faktoren. Das der Sportart anhaftende Gefahrenpotenzial darf nicht mit dem verwechselt werden, das ein Mensch aufgrund technischer Unzulänglichkeiten oder Fehlverhaltensweisen einbringt. Anspruch der Aufgabe und Fähigkeiten des Sportlers sind in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Der Sportler muss der Sportart kompetenzmäßig und charakterlich gewachsen sein.
  3. Zwischen Risiko- und Wagnissport ist wertungsmäßig und begrifflich zu differenzieren. Im Unterschied zum S-Bahn-Surfen oder Motorradrennen im Stadtverkehr zählen ausgereifte, verbandsmäßig streng überwachte Sportarten wie Segelfliegen, Reiten oder Bergsteigen unter wissenschaftlichen Aspekten nicht zu den Risiko-, sondern zu den Wagnissportarten. Die objektive Unfallwahrscheinlichkeit, der Wertaspekt des Tuns und das Verantwortungsniveau sind dabei von entscheidender Bedeutung.

Content stammt von einem Experten des FOCUS online EXPERTS Circles. Unsere Experts verfügen über hohes Fachwissen in ihrem Bereich. Sie sind nicht Teil der Redaktion. Mehr erfahren.