Asylrechtlerin zur Syrien-Lage - Anwältin betreut 1000 Syrer: Jetzt gibt sie ihnen Anti-Abschiebe-Tipp

Am 8. Dezember 2024 wurde Baschar al-Assad durch einen Aufstand gestürzt und floh nach Russland. Wegen des Diktators und des jahrelangen Bürgerkriegs in dem Land waren Hunderttausende Syrer geflüchtet, über eine Million kamen nach Deutschland. Seit dem Sturz Assad ist in Deutschland und anderen europäischen Ländern eine Asyldebatte entbrannt. Die wichtigste Frage: Können und werden die vielen Syrer bald in ihr Land zurückkehren? 

Bei der Asylrechts-Anwältin Sandra Göke laufen seit dem   Fall des Assad-Regimes die Telefone heißt. Über 1000 WhatsApp-Nachrichten hätten sie seit gestern erreicht. Im Interview mit FOCUS online berichtet die Juristin von der enormen Unsicherheit und den Ängsten ihrer Mandanten, die teils noch im Asylverfahren sind oder bereits in Deutschland Fuß gefasst haben.

FOCUS online: Frau Göke, das Regime in Syrien wurde vor zwei Tagen gestürzt. Machthaber al-Assad ist nach Russland geflohen. Was ist seither in Ihrem Büro los? 

Sandra Göke: Alles eskaliert seitdem komplett. Ich habe seit gestern über 1000 WhatsApp-Nachrichten bekommen. Ich arbeite sehr viel über WhatsApp mit den Mandanten. Ich komme kaum noch hinterher, ans Telefon oder Handy zu gehen. Zusätzlich sind hunderte E-Mails eingegangen. Alle wollen wissen, wie es weitergeht, vor allem die Leute, die im Asylverfahren sind, aber auch jene, die schon einen Aufenthaltstitel haben.

Syrische Flüchtlinge in Deutschland: "Ängste sind sehr vielfältig"

Welche Ängste äußern Ihre Mandanten jetzt? 

Göke: Sie fragen sich: Bekomme ich noch eine Antwort auf meinen Asylantrag? Kann ich hierbleiben? Wie lange wird das Ganze dauern? Wann kann ich meine Familie wiedersehen? Viele Männer haben ihre Frauen und Kinder in der Türkei in irgendwelchen Zelten sitzen. Nun ist wieder Winter, und der Druck ist groß, die Frauen und Kinder aus diesen Zelten herauszuholen.  

Wir haben auch viele Leute, die schon viele Jahre hier sind, einen Aufenthaltstitel haben und sich eine Existenz aufgebaut haben. Auch unter ihnen geht nun die Angst um, dass diese Existenz in Deutschland komplett wegbrechen könnte. Die Ängste sind sehr vielfältig. 

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat am Montag bekanntgegeben, dass die Bearbeitung von Asylanträgen syrischer Staatsangehöriger vorerst gestoppt wird. Was bedeutet das für Ihre Mandanten? 

Göke: Es ist erstaunlich, wie schnell diese Behörde, die sonst eher dafür bekannt ist, langsam zu agieren, jetzt plötzlich agiert. Ich habe heute schon keine Bescheide mehr bekommen. Alles, was das Bamf bereits für den Versand liegen hatte, muss herausgenommen worden sein. Normalerweise bekomme ich 15 bis 30 Bescheide über Asylanträge am Tag zugeschickt. Aktuell betreue ich ungefähr 1000 Verfahren von Leuten, die auf einen Bescheid warten. Das Bundesamt hat die Möglichkeit, die Verfahren bis maximal 21 Monate auszudehnen. Danach kann man Untätigkeitsklage erheben.

"Besonders schlimm ist es für die Minderjährigen"

Was machen die Verwaltungsgerichte?  

Göke: Die Verwaltungsgerichte werden die Fälle wahrscheinlich auch aussetzen, um abzuwarten, wie die Lage ist. Das Problem ist, dass die Leute über Jahre in eine Hängepartie geraten können, da die Situation in Syrien sich nicht so schnell stabilisieren wird, zumal die kurdischen Gebiete noch besetzt sind. 

Stehen mit der Bamf-Entscheidung jetzt auch Familienzusammenführungen auf dem Spiel? 

Göke: So ist es! Wir können keinen Familiennachzug mehr durchführen. Ich gehe davon aus, dass auch die Einbürgerung gestoppt wird. Alles liegt jetzt komplett auf Eis. Besonders schlimm ist es für die Minderjährigen, die jetzt 18 Jahre alt werden und ihre Eltern nicht mehr nachholen können. Alles ist blockiert. 

Klingt nach viel Chaos und schlimmen Einzelschicksalen. 

Göke: Es ist pures Chaos und eigentlich sind alle Schicksale schlimm. Es gibt so viele Männer, die ihre Frauen und Kinder in der Türkei haben, in diesen Auffanglagern, wo die Kinder krank sind und keine medizinische Versorgung vorhanden ist. Der Druck auf die Männer ist enorm. Jeden Tag rufen ihre Frauen weinend an, und das betrifft so viele Leute.

Expertin mit Rat an Syrer: "Alle müssen eine Ausbildung machen"

Was bedeutet die neue Situation in Syrien für Syrer, die hierzulande einen sogenannten subsidiären Schutzstatus haben? Was raten Sie ihnen? 

Göke: Alle müssen eine Ausbildung machen. Alle müssen sich dringend beruflich qualifizieren. Dazu gibt es keine andere Option. Denn der subsidiäre Schutz und selbst die Flüchtlingseigenschaften werden wahrscheinlich widerrufen. Das bedeutet, dass die Betroffenen irgendwann wahrscheinlich einen Brief erhalten, in dem steht, dass der Schutzstatus widerrufen wird und der Aufenthaltstitel weg ist. Dann werden sie zurückgewiesen.  

Wenn die Leute jedoch eine Ausbildung beginnen, haben wir andere Optionen, sie zu halten. Aktuell gibt es noch mehr Gesetze, um sie zu halten. Wenn ein Aufenthaltstitel widerrufen wird und jemand eine Duldung bekommt, könnte ich einen anderen Aufenthaltstitel beantragen, wenn jemand gut integriert ist. Und das ist bei den meisten Syrern der Fall. 

Es klingt, als sähen Sie diese Gesetze auf der Kippe. 

Göke: Ich glaube nicht, dass wir diese Gesetze, die wir jetzt haben, noch lange in Deutschland haben werden. Daher kann ich wirklich nur zur beruflichen Qualifikation raten. Die Zeit rennt. Neuwahlen stehen in Deutschland an. Danach werden sich die Gesetze sicher noch einmal ändern. Das kennen wir ja aber schon im Migrationsrecht.

Nach Assad-Sturz: "Gerade die Älteren möchten zurück"

Die Zukunft Syriens ist aktuell ungewiss. Sollte sich die Lage aber stabilisieren, glauben Sie, dass viele Syrer zurückgehen werden? 

Göke: Von den älteren Syrern, mit denen ich gesprochen habe, wollen fast alle zurückkehren. Die Jüngeren, die hier ihre Jugend verbracht haben, eine Ausbildung gemacht oder hier aufgewachsen sind, fühlen sich hier heimisch und möchten bleiben. Aber bei den Älteren herrscht regelrechte Aufbruchstimmung. Sie sind emotional sehr aufgewühlt. Das liegt unter anderem daran, dass momentan extrem viele Videos von den Befreiungen am Wochenende kursieren, und das fesselt die Menschen. Gerade die Älteren möchten zurück, um ihre Heimat wieder aufzubauen. 

Was für Videos bekommen Sie geschickt? 

Göke: Extrem viele Videos von Folterungen, bis hin zu Tötungen, aber auch von den Befreiungen in den Gefängnissen. Die Bevölkerung war selbst überrascht, dass so viele Frauen und extrem viele Kinder in den Gefängnissen sind. Kinder, die in den Gefängnissen gezeugt wurden, was der Bevölkerung gar nicht bekannt war. Das bedeutet, viele Frauen wurden vergewaltigt. 

In Deutschland entbrennt derzeit eine Asyldebatte rund um die Ereignisse in Syrien. Jens Spahn sagte etwa: „Jeder, der zurück will nach Syrien, für den chartern wir Maschinen, der bekommt ein Startgeld von 1000 Euro“. Ist es wirklich so einfach, wie es der Unionsfraktionsvize formuliert? 

Göke: Wie gesagt, bei den älteren Syrern besteht großes Interesse, zurückzukehren. Aber natürlich möchte man auch erst einmal abwarten, wie sich die Lage entwickelt. Es gibt offene Fragen: Was passiert mit Kurdistan? Werden die Kurden aufgeben oder weiterkämpfen? Die Gebiete sind noch besetzt, dort stehen immer noch Soldaten. Außerdem: Amerika hat sich zurückgezogen, was bedeutet, dass die Kurden weniger Unterstützung haben.  

Es gibt viele Unsicherheiten, und solange keine demokratische Regierung garantiert ist, können die Leute nicht einfach von heute auf morgen zurückkehren. Man muss abwarten, wie es weitergeht. Erst wenn sich die Lage stabilisiert hat, werden die Leute konkret darüber nachdenken, zurückzukehren.

Viele offene Fragen für Syrer

Spahns Parteikollege Alexander Throm wurde noch direkter und sprach von einer „grundlegend geänderten“ Lage in Syrien nach dem Sturz von Assad. 

Göke: Die Lage hat sich tatsächlich geändert, aber momentan gibt es noch keine neue Regierung. Wer die Macht übernehmen wird, ist noch weitestgehend offen. Eine andere wichtige Frage: Gibt es noch aufständische Rebellen oder Parteien, die versuchen, die Macht an sich zu reißen? Das alles muss erst in geordnete Bahnen gelenkt werden. Solange das nicht geklärt ist, kann ich niemanden zurückschicken, weil sonst immer wieder Auseinandersetzungen aufflammen könnten. Die Syrer selbst schauen aber etwas euphorischer und optimistischer auf die Lage als ich. 

Herr Throm hat auch gesagt, dass es nun zu prüfen sei, ob der Schutzstatus syrischer Regimeflüchtlinge in Deutschland entfällt. Was meinen Sie dazu? 

Göke: Das ist tatsächlich der Weg, der momentan eingeschlagen wird. Der Schutzstatus wird überprüft und eventuell verfeinert. Die Politiker möchten gewählt werden, und das funktioniert im Moment gut, wenn man sich gegen Flüchtlinge oder Ausländer positioniert. Große Parteien müssen sich ja auch Wähler von der AfD zurückholen, und das gelingt, indem man Stimmung in diese Richtung macht.  

Ich denke, man muss differenziert betrachten, wer gut integriert ist und wer nicht. Wer seit vielen Jahren hier ist und keine Arbeit hat, muss vielleicht schneller zurückkehren. Aber wer hier eine Ausbildung gemacht hat, arbeitet und sich eine Familie aufgebaut hat, der gehört zu uns. 

Was glauben Sie, wird sich in den nächsten Jahren durch den Fall des Assad-Regimes in der Asylrechtslage in Deutschland ändern? 

Göke: Längerfristig wird es nicht einfacher werden, Aufenthaltstitel zu bekommen. Der einzige Weg bleibt die Qualifizierung. Ich denke, die Institution der Duldung wird wackeln. In Bayern gibt es sie faktisch schon nicht mehr. Auch bei gut integrierten Menschen könnten die Zugeständnisse, die in den letzten Jahren gesetzlich gemacht wurden, wieder zurückgenommen werden. Einfacher wird es für die Leute nicht werden.

"Wir reden nicht über Bauanträge, sondern über Menschenleben"

Was wird aus Ihrer Sicht aktuell in der Debatte übersehen? 

Göke: Dass es um Menschenschicksale geht. Wir reden hier nicht über Bauanträge oder Grundsteuerprobleme, sondern über Menschenleben. Die Leute hängen in der Warteschleife, kommen nicht voran mit ihrem Leben. Familien sind getrennt, Kinder wachsen ohne Väter oder Eltern auf. Menschen können ihre Existenz nicht festigen, wenn sie jahrelang in einer Hängepartie sind. Arbeitgeber möchten auch eine gewisse Sicherheit haben, dass ihre Angestellten bleiben und nicht plötzlich abgeschoben werden. Dies hat enorme Auswirkungen auf viele Lebensbereiche. 

Was sind Ihre Empfehlungen, was jetzt getan werden sollte? 

Göke: Die Leute sollten nicht in der Warteschleife hängen bleiben. Wir müssen diejenigen, die schon hier sind, integrieren. Man kann sie nicht jahrelang auf ein Abstellgleis schieben und sagen, sie dürfen nicht richtig arbeiten oder Sprachkurse machen. Diese Menschen wollen arbeiten, selbstständig sein und die Sprache lernen. Wir sollten sie dabei unterstützen, damit sie auch unsere Steuern zahlen und nicht nur finanziert werden. Lassen wir sie ins Leben hier einsteigen, anstatt sie auf dem Abstellgleis sitzen zu lassen.