Im Interview spricht Kühnert über Unzufriedenheit in Ostdeutschland und sagt: In Thüringen fehlen historisch bedingt Einnahmen, die Bayern reich machen.
Erfurt – Abseits der blitzsauberen Autobahn sieht es manchmal aus wie früher. An kurvigen Landstraßen stehen Häuser, die noch so graubraun sind wie vor der Wende. Die Orte heißen Großebersdorf, Kleinbocka oder Lederhose. Und an den Kreuzungen sieht man selbstgezimmerte Schilder mit Aufschriften wie dieser: „Man versprach uns blühende Landschaften. Und das ohne Umgehungsstraße?“
Vor Thüringen-Wahl: Kevin Kühnert wandert durch Wälder
Wenn man mit Menschen ins Gespräch kommt, die in Dörfern in Thüringen leben, hört man oft das Wort „enttäuscht“. Man habe sich mehr von der Wiedervereinigung erhofft, heißt es dann. Für Alltagssorgen und Probleme, die nur bedingt mit der Wende zu tun haben – wie eine fehlende Umgehungsstraße – machen manche die Politik von einst und jetzt verantwortlich.
Einer, der jetzt Politik macht, ist Kevin Kühnert. Der SPD-Generalsekretär sitzt seit 2021 im Bundestag und ist vor der Thüringen-Wahl auf Sommertour: Wandern mit Bürgerinnen und Bürgern im Wald, durch ehemalige Uranabbaugebiete, im Nationalpark. Auch ihm sagen die Leute, was sie stört: immer noch niedrigere Renten als im Westen, geringerer Lohn. Und Kühnert hört aufmerksam zu, argumentiert: Es gebe Verbesserungen, allein vom Mindestlohn profitierten in Thüringen Zehntausende. Und die Rentenangleichung komme auch schneller als erwartet.
Enttäuschung sitzt bei vielen vor Thüringen-Wahl tief
So recht überzeugt scheinen seine Gegenüber eher nicht zu sein. Kann er sich die Enttäuschung der Menschen vor der Thüringen-Wahl erklären? „Ich bin vier Monate vor dem Mauerfall geboren und ich kann nicht authentisch berichten, wie es damals war“, sagt Kevin Kühnert im Gespräch. „Was ich weiß, ist, dass es damals natürlich eine große Euphorie gab und den Wunsch nach schneller Angleichung. Aber nicht alles davon ist im Rückblick ideal gelaufen.“
Es gehe um Ungerechtigkeiten, die man nicht einfach so habe beseitigen können, glaubt der SPD-Politiker: „Bundesländer wie Thüringen, Sachsen oder Brandenburg sind nach 1990 mit quasi keinem Vermögen gestartet, im Vergleich zu den westdeutschen Bundesländern, in denen viele Menschen Vermögen anhäufen konnten. Das zieht sich bis heute durch.“ Das würden die Menschen im Alltag merken. „Stichwort Heizungsgesetz, da geht es um große Investitionen.“
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Auch die Landeshaushalte seien mit anderen Voraussetzungen in die Wiedervereinigung gestartet als die der alten Bundesländer. „Wichtiges Thema: Erbschaftsteuereinnahmen“, sagt Kühnert. „Für Bayern ist die Steuer eine große Einnahmequelle. Hier in Thüringen hingegen fehlt das. Bedingt durch die Geschichte gibt es kaum große Erbschaften. Dadurch gibt es Investitionsstau.“
AfD-Wählerin: „Mein Ziel ist, dass ihr endlich weg seid“
Tatsächlich sind seit 1990 über 1,6 Billionen Euro an öffentlichen Geldern in die ostdeutschen Länder transferiert worden: Es gab neue Autobahnen, Geld für neue Wirtschaftszweige, und arg heruntergekommene Innenstädte wurden aufwendig saniert – heute wirken viele der pittoresken Altstädte wie Postkartenmotive aus Urlaubsparadiesen. Das erkennen die meisten hier an. Doch nicht selten flossen Riesenbeträge in von Westkonzernen gesteuerte Leuchtturmprojekte, die schnell versandeten. Bis heute sind zahlreiche Gemeinden von Geldspritzen abhängig.
Bei manchen hat sich die Enttäuschung aufgestaut – so sehr, dass sie bei der Thüringen-Wahl auch aus Protest AfD wählen. Die Partei mit ihrem Spitzenkandidaten Björn Höcke steht in Umfragen bei 30 Prozent. „Ich habe mal eine AfD-Wählerin gefragt, was sich aus ihrer Sicht ändern wird, wenn die AfD regieren würde“, erzählt Kühnert. Die Frau habe geantwortet: „Das ist mir egal, mein Ziel ist, dass ihr endlich weg seid.“