In der Posse um ter Stegen herrscht Ruhe – doch das Schlimmste kommt erst noch
- Im Video oben: Wende im Zoff mit Barça: Ter Stegen unterschreibt Bericht und ist wieder Kapitän
„Jetzt ist es an der Zeit, nach vorn zu schauen“, sagte Marc-André ter Stegen mit dem Mikrofon in der Hand vor den Fans des FC Barcelona im Estadi Johann Cruijff bei der Saisoneröffnungsfeier des Vereins. Nach vorn - versöhnliche Worte in makellosem Spanisch, während die orange-rote Binde seinen linken Oberarm zierte und seine Mannschaftskollegen geschlossen hinter dem Kapitän standen.
Vom Publikum gab es während der Rede großen Applaus, viele standen auf. Eine Trotzreaktion derer, die eine Antwort auf Pfiffe von einigen Anhängern gegen ihre langjährige Nummer eins und auf die wochenlange Hetzkampagne in den Sozialen Netzwerken geben wollten?
Ter Stegen ist zum Streitpunkt in Barcelona geworden. Über den Sommer hatte sich ein Konflikt mit dem Verein entwickelt, der in einem Disziplinarverfahren gegen den Torhüter gipfelte. Aber wie konnte es nur so weit kommen und ist nun wirklich wieder alles gut?
Wie ter Stegen in Barcelona zum Streitpunkt wurde
Alles begann nach dem Saisonende. Ter Stegen flog zur deutschen Nationalmannschaft, nach seinem überstandenen Patellasehnenriss war er wieder fit. Endlich die Nummer eins im deutschen Kasten, raus aus Manuel Neuers Schatten.

Bundestrainer Julian Nagelsmann hatte während der erneuten Verletzungspause stets betont, auf den gebürtigen Mönchengladbacher zu bauen. Wertvolle Rückendeckung. So feierte ter Stegen bei zwei Spielen der Nations League gegen Portugal und Frankreich mit teils spektakulären Paraden eindrucksvoll sein Comeback.
Doch während er im Nationaldress wieder glücklich war, verlor er jene Rückendeckung in seiner katalanischen Wahlheimat. Plötzlich rankten sich Gerüchte um eine Wachablösung, der Keeper musste sich im DFB-Camp in Herzogenaurach unbequeme Fragen stellen.
Nummer eins beim DFB, Degradierung bei Barca
Für ihn war die Situation aber klar: Er ist bei Barcelona der Kapitän, die Nummer eins – etwas anderes haben ihm die Verantwortlichen um Trainer Hansi Flick auch nicht mitgeteilt. Wer auch immer kommen würde, müsse sich hinter ihm anstellen. So viel Selbstbewusstsein darf nach über einem Jahrzehnt Weltklasse erlaubt sein.
Der spanische Meister verpflichtete dennoch für rund 25 Millionen Euro Joan Garcia von Lokalrivale Espanyol – mit dem klaren Plan, den 24-Jährigen als neue Nummer eins im Tor zu installieren. Ter Stegen, mit seinem üppigen Jahresverdienst von angeblich 18 Millionen Euro, sollte hingegen von der Gehaltsliste fliegen.
Das Vorgehen der Katalanen war drastisch. Der Verein war in den vergangenen Jahren fast schon berüchtigt dafür, unliebsame Spieler durch das Mittel von Medien unter Druck zu setzen. Selbst Legenden wie Dani Alves und Luis Suarez bekamen das zu spüren. Vereinsikone Xavi machte diese Erfahrung als Trainer. Sogar Lionel Messis Abgang war kein ruhiger.
Barca-Mobbing gegen ter Stegen?
So blieb ter Stegen über den Sommerurlaub im Unklaren, während über die spanische Presse immer neue Entwicklungen gestreut wurden - der Keeper wurde dabei stets im schlechten Licht abgebildet. Er sollte vor dem Champions-League-Halbfinale gedroht haben, nicht mit zum Rückspiel zu reisen, sollte er nicht im Tor stehen.
Ter Stegen wurde als undankbar, egoistisch dargestellt, als Torwart, der auf seinem dicken Gehaltsberg sitzen bleiben möchte. Nicht würdig eines Kapitäns. So ließ sich die Barca-nahe Zeitung „Mundo Deportivo“ zu einem Kommentar mit dem Titel „Eine Frage der Größe“ hinreißen, das katalanische „Sport“ schrieb von einem „verwöhnten Trotzverhalten“.

Ter Stegen sah sich veranlasst, in einem Instagram-Post die Dinge zu klarzustellen. "Die vergangenen Monate waren besonders schwierig für mich", schrieb er, "sowohl physisch als auch für mich persönlich". Insbesondere, weil "viele Dinge über mich gesagt wurden - einige davon sind völlig haltlos".
Auch die eher Real-Madrid-nahe „Marca“ sprang ihm zur Seite, dort kommentierte etwa der stellvertretende Chef Juan Ignacio Garcia-Ochoa: "Seit Monaten riecht es bei Barcelona faul. Was als einfaches Gerücht um ter Stegen begann, hat sich zu Praktiken entwickelt, die einen ganz klaren Namen haben: Mobbing. Ja, Mobbing am Arbeitsplatz."
Mobbing im Arbeitsplatz: so wurde ter Stegen, der Kapitän, laut Berichten hinter Neuzugang Garcia und seinem bisherigen Vertreter Wojciech Szczesny zur Nummer drei degradiert.
In der vergangenen Woche wurde ihm nicht einmal eine Rückennummer verliehen. Seine Führungsrolle stand sowieso zur Debatte.
Streit gipfelt im Disziplinarverfahren
Hintergrund war ein zu dem Zeitpunkt laufendes Disziplinarverfahren gegen ter Stegen. Als der Keeper zurück zum Verein kehrte, trainierte er zunächst nur individuell. Die als Grund angegebene Rückenprobleme wurden von Kritikern als Ausrede bewertet. Doch: Der 32-Jährige musste sich tatsächlich einer Operation am Rücken unterziehen.
Damit war klar: Ter Stegen fällt mal wieder zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt aus. Auf seinem Instagram-Account schrieb er von einer Ausfallzeit von drei Monaten. Eine geschickte Formulierung, um Barca eins auszuwischen.
Denn laut spanischen Ligaregeln kann ein Verein erst bei einer Ausfallzeit ab vier Monaten 80 Prozent des Gehalts nutzen, um andere Spieler zu registrieren. Weil ter Stegen die Herausgabe des medizinischen Berichts verweigerte, eskalierte der Streit. Disziplinarverfahren!
Barcelona braucht ter Stegen, um seinen Nachfolger zu registrieren
Ohne seine Einwilligung, konnte der Klub ter Stegens Nachfolger Garcia nicht registrieren. Auch Marcus Rashford und Roony Bardghji standen noch auf der Warteliste. Das warf zwangsläufig die Frage auf, wie der Verein vorgegangen wäre, hätte sich der Torwart nicht verletzt. Den Spielern wurde nach eigener Aussage versichert, dass die Registrierung ohne Probleme ablaufen würde.
Anders als in der Vergangenheit. Da gab es in Dani Olmo und Pau Victor zwei prominente Fälle, die in Barcelona keine Spielberechtigung erhielten. Der Verein erfüllte die Ligabedingungen nicht. Erst mit der Verletzung von Ander Christensen konnte das Duo auf die Liste gesetzt werden - ein Gerichtsstreit mit der Liga zog sich aber bis Mitte diesen Jahres.
Barcelona und das ewige Registrierungsproblem
Jedem Verein wird in Spanien eine individuelle Gehaltsobergrenze zugeschrieben, die sich am Vereinsbudget und den geschätzten Einnahmen aus TV-Geldern, Sponsoring-Verträgen und den Ausgaben orientiert. Wird diese Grenze mit bis zu 25 erlaubten Spielern überschritten, können Neuzugänge nicht registriert werden.
Der Verein ist hochverschuldet. Bei seinem Amtsantritt im März 2021 sprach Präsident Joan Laporta von 451 Millionen Euro Nettoschulden und rund 1,35 Milliarden Euro Bruttoschulden, die sein Vorgänger Josep Maria Bartomeu angehäuft haben soll. Trotz der Schieflage verpflichtete der Verein in den vergangenen Jahren aber immer wieder Topstars wie Robert Lewandowski, Raphinha oder Olmo für Unsummen.
Wie sich der Traum von Barca dem kaputten Fußball unterwarf
Der Verein wankt, verliert sich immer mehr in fragwürdigen Sponsoring- und TV-Deals mit saudischen Partnern, hat sich dem kaputten Kapitalismus des Fußballgeschäfts völlig unterworfen.
Dabei stand Barca einst für das Gegenteil. Für den Traum, für die Vision eines Vereins, der allein durch seine Strahlkraft, durch seine Farben, seine Legenden und seiner tiefen Verbundenheit zur katalanischen Kultur Identität und Halt stiftet.
„Mes que un club“, so das Motto. Mehr als ein Club. Ein Verein ohne Trikotsponsor, weil die Farben auf der Brust wichtiger sind. Ein Verein mit einem Stadion (Camp Nou) und einer Jugendakademie (La Masia), der alles überstrahlt.
Aber die Fassade bröckelt wie das zuletzt aus Sponsoringgründen in „Spotify Camp Nou“ umbenannte baufällige Stadion. Seit 2023 spielt Barcelona aufgrund der Umbaumaßnahmen im Olympiastadion der Stadt, für 2026 ist die Rückkehr in den auf 105.000 Plätze erweiterten Prachtbau geplant.
Ter Stegen ist zum Spielball geworden - und spielt mit
Der FC Barcelona ist nicht mehr der Verein, der er mal war. Das spürt auch ter Stegen. Er ist zum Spielball der kaputten Barca-Welt geworden – und spielt nun mit.
Das Disziplinarverfahren ist aufgehoben, weil ter Stegen seine Einwilligung zur Weiterreichung seiner medizinischen Unterlagen gegeben hat. Damit steht der Registrierung seines Erbens wohl nichts mehr im Wege (bei Barca weiß man aber nie!).
Daher durfte ter Stegen auch in seiner Funktion als Kapitän die traditionelle Rede bei der Eröffnungsfeier halten. "Marc ist unser Kapitän, die Angelegenheit ist geklärt", sagte Präsident Laporta im Interview mit TV3: "Er hat sich in seiner Rede hervorragend gezeigt und die Fans mussten sehen, dass der Kapitän die Führung übernimmt."

Alles nur Fassade? An seiner Ausmusterung ändert es nichts. Sollte die Rückenverletzung auskuriert sein, droht dem Torwart die Bank. Ter Stegen verschlimmbessert seine Situation. Er zeigt sich hochprofessionell, beweist sich als Kapitän. Er beugt sich aber seinem Schicksal.
Flicks fragwürdige Rolle im Fall ter Stegen
Seine schwierige Lage hatte sich bereits Ende der vergangenen Saison angedeutet. Wie sehr es eskalieren würde, war zwar nicht abzusehen, doch agierte der Keeper bei den ersten aufkommenden Gerüchten zu naiv. Er verkannte die Lage.
Aber auch Flick, der deutsche Trainer, der ihn bereits aus gemeinsamen DFB-Zeiten gut kennt, spielt dabei eine fragwürdige Rolle. Ter Stegen nicht im Urlaub stören zu wollen, klingt vielmehr nach einer faulen Ausrede.
Nun steht die deutsche Nummer eins vor einem Dilemma. Kommendes Jahr findet die Weltmeisterschaft in Nordamerika an. Das erste Großturnier, bei dem der 32-Jährige als Nummer eins fest eingeplant ist. Ein Jahr auf der Bank könnte aber auch Julian Nagelsmann zum Nachdenken bewegen.