„Er hat Angst“: Was Macrons Neuwahl für Frankreich und Europa bedeutet
Nach einem erneuten Rechtsruck in Frankreich löst Emmanuel Macron das Parlament auf. Der Präsident spielt aus Verzweiflung ein extrem riskantes Spiel, wissen Experten.
Paris – Es kam einem politischen Erdbeben gleich, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron noch am Abend der Europawahl die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen für Ende Juni ankündigte. Macron reagiert damit auf die krachende Niederlage seiner Partei Renaissance und den massiven Rechtsruck in Frankreichs Politiklandschaft. Doch wieso lässt der Präsident gerade in der stärksten Phase der rechten Partei RN (Rassemblement National) neu wählen?
Frankreichs Rechte bei Europawahl auf Siegerkurs – Macron stürzt ab
Kurz nach Bekanntwerden der Hochrechnungen und dem Rekordergebnis von etwa 31,5 Prozent der Stimmen für RN unter Parteichefin Marine Le Pen forderte ihr EU-Spitzenkandidat Jordan Bardella Neuwahlen. Womit niemand gerechnet hat: Macron, dessen Partei auf gerade einmal knapp 15 Prozent kam, verkündete genau das nur kurze Zeit später im Fernsehen.

„RN fordert nach starken Ergebnissen traditionell Neuwahlen. Dass Macron das nun tatsächlich angekündigt hat, kam bei RN mindestens genauso überraschend an wie im Rest des Landes“, sagt Jakob Ross, Experte für deutsch-französische Beziehungen von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zu IPPEN.MEDIA. „Macron hat dadurch die Dynamik bestimmt, und sich sozusagen selbst den Schauplatz für die nächste Schlacht gewählt. Er hat Angst, dass er durch die Ergebnisse der Europawahl die nächsten Jahre zur ‘lame duck’ wird.“
Frankreichs Präsident Macron überrascht mit Neuwahlen alle
Neben Ross wurde auch Funda Tekin, Leiterin des Instituts für Europäische Politik (iep) und Honorarprofessorin an der Universität Tübingen von den Ereignissen in Frankreich überrascht, wie sie unserer Redaktion sagt. „Macrons Reaktion hat keiner kommen sehen. Seine Strategie ist nun, an die Menschen zu appellieren: Europäisch habt ihr rechts gewählt, aber wollt ihr das auch auf nationaler Ebene? Macron will, dass die Menschen in der französischen Politik Farbe bekennen.”
Denn, so Tekins Argument, auch Le Pens starkes Abschneiden haben viele nicht erwartet: „Jeder dritte Franzose hat extrem rechts und nationalistisch gewählt. Man konnte davon ausgehen, dass RN stärkste Kraft wird, aber dieser Ausgang ist schon ein deutliches Zeichen der Wähler.”
Die Wahl ist nicht nur für seine Partei, sondern auch Macron persönlich fatal, weiß Frankreich-Experte Ross: „Er hat wieder auf einen Zweikampf zwischen ihm als Pro-Europäer und Le Pen als Anti-Europäerin gesetzt. Das hat nicht geklappt, stattdessen war es eine Wahl für oder gegen Macron. Für ihn ist es eine persönliche Niederlage.“ Die angekündigten Neuwahlen halten Ross zufolge selbst Macrons engste Verbündete für einen „extrem riskanten Schritt“. Bis Sonntagabend wussten wohl nur eine Handvoll Vertrauter von den Plänen. Das Szenario soll Macron aber bereits Ende Mai erstmals in Erwägung gezogen haben.
Meine news
Macrons Entschluss macht einen rechten Premierminister so wahrscheinlich wie nie zuvor
Ob Macrons riskantes Spiel aufgeht, wird sich bald herausstellen (Wahltermine sind am 30. Juni und für die nötigen Stichwahlen am 7. Juli). Klar ist, dass die Chance auf einen Premierminister des rechten RN noch nie so groß war wie jetzt. Wer im französischen Parlament die meisten Stimmen erhält, darf den Premier – nach dem Präsidenten die zweitmächtigste Person im Land – stellen. Nach seinem erfolgreichen Europa-Wahlkampf steht Bardella für das Amt in den Startlöchern. Bereits in der Vergangenheit gab es Regierungen, in denen Präsident und Premier aus unterschiedlichen Parteien kamen, genannt Cohabitation.
Ein RN-Premier würde Frankreich besonders innenpolitisch verändern, sagt Frankreich-Experte Ross. „Der Trend, dass RN Debatten und Politik in Frankreich schon jetzt bestimmt, würde dadurch verstärkt. Das Programm des Präsidenten ist bereits nach rechts gerückt, er setzte zuletzt auf Themen wie Migration, Drogenpolitik und den patriotischen Geist Europas und wollte damit ein rechtsgerichtetes Publikum ansprechen.“
Der französische Führungsanspruch in Europa liegt vorerst auf Eis
Anders sähe es laut Experten in der Außen- und Sicherheitspolitik Frankreichs aus, speziell im Ukraine-Krieg. „Auf die Ukraine bezogen, würde wohl weiterhin Macron Debatten und Politik bestimmen. RN und Bardella setzen bei der Ukraine wenig auf eigene Themen und konzentrieren sich auf nationale Fragen. Abgesehen von sehr großen Aussagen Macrons wie der Frage, ob französische Truppen in die Ukraine geschickt werden, würde ein Bardella als Premier an der Ukrainepolitik nicht viel ändern.”
Unabhängig vom nächsten französischen Premier wird allein durch Macrons Ankündigung sein Fokus für die kommenden Wochen schon jetzt deutlich: Er liegt im eigenen Land und nicht etwa in der nun anstehenden Bildung der EU-Kommission in Brüssel. Das weiß auch Europa-Professorin Tekin: „Auf EU-Ebene hat Macron nach der letzten Wahl von der Leyen ein wenig aus dem Hut gezaubert. Von etwas Ähnlichem gehe ich jetzt nicht mehr aus. Macron hat seine eigenen Sorgen in Frankreich, und er ist nach der Wahl nicht gestärkt genug, um einen eigenen Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft durchzusetzen.”
Bleibt die Frage, wer stattdessen richtungsweisend im Entscheidungsprozess über das künftige EU-Spitzenpersonal und damit die Europapolitik wird. 2019 setzte Macron die wichtigen Impulse. Nun fällt er wohl weg. Und Deutschland? Dem Politik-Experten Ross zufolge fehlt auch der Bundesregierung wegen der Uneinigkeit in der Ampel-Koalition ein Führungsanspruch in dieser Debatte. Die Frage der europäischen Führung bleibt fürs Erste unbeantwortet.