Nach Afghanistan und Syrien - Wieder nur heiße Luft? Experten zerpflücken Abschiebe-Ansage vom Kanzler

Darf man nach Afghanistan abschieben, wo seit August 2021 die Taliban an der Macht sind? Oder nach Syrien, wo der brutale Diktator Baschar al-Assad herrscht? Nach der tödlichen Messerattacke in Mannheim ist die Abschiebungsdebatte wieder voll entbrannt – und hat auch den Kanzler zu den „richtigen Worten“ gedrängt, wie CDU-Chef Friedrich Merz bescheinigte.

In seiner Regierungserklärung, in der es unter anderem um den Polizistenmord durch den Afghanen Sulaiman A. ging, sagte Scholz: „Lassen Sie mich aber auch klar sagen: Es empört mich, wenn jemand schwere Straftaten begeht, der hier Schutz gesucht hat. Solche Straftäter gehören abgeschoben – auch wenn sie aus Syrien oder Afghanistan stammen. Schwerstkriminelle und terroristische Gefährder haben hier nichts zu suchen.“ Es gebe Gespräche mit den Nachbarstaaten Afghanistans.

Der Wille zur Abschiebung krimineller Ausländer scheint vorhanden zu sein, doch die Umsetzung dürfte große Probleme bereiten. Sind die vollmundigen Worte von Scholz, der noch im Oktober vergangenen Jahres ankündigte, „endlich in großem Stil“ diejenigen abzuschieben, „die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben“, nur heiße Luft?

FOCUS online hat Experten gefragt, wie realistisch die Abschiebe-Ankündigung des Bundeskanzlers wirklich ist.

Abschiebung nach Afghanistan und Syrien: Ist das nur heiße Luft, was der Kanzler sagt, oder ist das wirklich möglich?

Migrationsexperte Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München und einer der besten Kenner von Europas Migrationspolitik sagt: „Die Antwort des Kanzlers betrifft eine Frage, die schon seit Jahrzehnten virulent ist und in der die Bemühungen, Personen, die schwere Straftaten begangen haben, abschieben zu können, permanent präsent sind.“

Es gebe dazu auf Bundes- und Landesebene viel Koordination und große Bemühungen in Einzelfällen eine Lösung zu finden, die aber normalerweise nicht öffentlich gemacht werden. „Der Bundeskanzler hat also emotional auf eine emotionale Debatte reagiert, die durch eine brutale Einzeltat ausgelöst wurde“, so Hruschka gegenüber FCOUS online. Diese Frage werde aber tatsächlich ständig geprüft. Die Aussage sei also eher eine Bekräftigung laufender Bemühungen als etwas Neues.

Wiebke Judith ist rechtspolitische Sprecherin und leitet das Team Recht & Advocacy bei ProAsyl. Sie fängt die Worte des Kanzlers ebenfalls wieder ein und sagt: „Unserer Sicht nach sind Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien klar menschenrechtswidrig. Dies hängt mit der Lage in diesen Ländern zusammen, wo Regime, die bekanntermaßen foltern und Hinrichtungen durchführen, an der Macht sind.“

Die allgemeine Menschenrechtssituation und die humanitäre Lage seien in beiden Ländern so katastrophal, dass es gegen das absolute Folterverbot verstoßen würde, Menschen dorthin zurückzubringen. „Ich glaube, da muss man auch betonen, dass es eben darum geht, diese Regime für ihre Menschenrechtsverletzungen zu ächten und dass das nicht aufgeweicht werden sollte“, so die Expertin. „Daher halten wir das für rechtswidrig und zweifeln an, dass es realistisch umsetzbar ist.“

Welche rechtlichen Hürden für Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien gibt konkret?

Hruschka dazu: „Rechtliche Hürden bestehen immer dann, wenn die Person aus rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden darf. Beispielsweise, wenn ihr Verfolgung im Herkunftsstaat droht.“

Ein absolutes rechtliches Verbot der Abschiebung bestehe, wenn der Person im Falle einer Abschiebung im Zielstaat Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Dieses Verbot komme auch Personen zu, die schwere Straftaten begangen haben. „Eine solche Abschiebung würde auch gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes verstoßen.“

„Weitere rechtliche und praktische Probleme betreffen die Durchführbarkeit der Abschiebung, die Beschaffung der entsprechenden Papiere, die Notwendigkeit, ein Abkommen mit den jeweiligen Ländern zu schließen, was jedenfalls bei Syrien auch gegen die Sanktionen verstoßen könnte, die gegen Syrien beschlossen wurden (auf EU- und UN-Ebene), wenn dafür Geld fließt“, erklärt Hruschka.

Judith von ProAsyl betont das völkerrechtliche Folterverbot, das gelte. „Dieses ergibt sich unter anderem aus Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 4 der EU-Grundrechtecharta. In Deutschland haben wir deswegen das Abschiebungsverbot in Paragraph 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes verankert.“

Können diese Hürden überwunden werden?

Dieses völkerrechtliche Folterverbot sei absolut, so Judith weiter. „Das heißt, selbst wenn jemand als Terrorist klassifiziert wird, darf er nicht gefoltert werden, noch darf er durch eine Abschiebung einer potenziellen Folter ausgesetzt werden. Stattdessen muss auf Straftaten in Deutschland mit dem deutschen Strafrecht geantwortet werden.“

Hruschka bestätigt, dass – aus rechtlicher Sicht – das individuelle Abschiebungsverbot nicht überwunden werden könne. „Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) immer wieder betont, und zwar auch dann nicht, wenn die Person tatsächlich gefährlich ist.“ Eine Abschiebung könne demnach nicht rechtmäßig stattfinden. Dies treffe nach der Rechtsprechung auf fast alle Personen aus Syrien und Afghanistan zu, kann aber im Einzelfall anders sein.

ProAsyl-Expertin Judith bringt indes das „Instrument der sogenannten diplomatischen Zusicherung“ ins Spiel. „Hierbei versichert das aufnehmende Land, dass die Person nach der Abschiebung nicht gefoltert wird. Allerdings müsste man dazu mit den Taliban oder dem Assad-Regime als vertrauenswürdige Gegenpartei zusammenarbeiten.“

Und das gehe eben gerade nicht: „Eine Zusicherung der Taliban oder des Assad-Regimes hätte aus unserer Sicht einfach keinen Wert. Diese Regime müssen für ihre Menschenrechtsverletzungen geächtet werden und das darf nicht aufgeweicht werden.“

Hinzu komme, dass zum Beispiel die islamistischen Taliban sich die Zustimmung zu solchen Abschiebungen sicherlich auch einiges kosten lassen würden, um die Situation für sich nutzen zu können, so Judith.

Was muss Scholz jetzt tun, um diese Abschiebungen zu gewährleisten?

Hruschka: „Die Prüfung einer Abschiebung kann immer nur in einer Einzelfallprüfung erfolgen und das ist etwas, was die ganze Zeit bereits läuft. Die zuständigen Behörden prüfen das permanent.“

Es gebe demnach aus Sicht des Experten „keine oder jedenfalls kaum zusätzliche Hebel, die in dieser Hinsicht in Gang gesetzt werden könnten“.

Der Fokus auf Abschiebungen von Straftätern beschäftige die Politik bereits seit 2016 „und weder die drei Gesetze zur Erleichterung von Abschiebungen 2017, 2019 und 2024 noch die tatsächlichen Bemühungen haben eine generelle Lösung gebracht, da die Frage, ob eine Person abgeschoben werden darf, eben eine Einzelfallfrage ist.“ Der Fokus auf die Abschiebung von Straftätern beschäftige die Politik und die Praxis bereits seit Jahrzehnten. 

Judith: „Es kursieren Berichte, dass Gespräche mit Drittländern stattfinden. Aus unserer Sicht ist es unwahrscheinlich, dass die betreffenden Regierungen Interesse daran haben, diese Rolle einzunehmen.“ Es ändere auch nichts daran, dass die Kettenabschiebung nach Afghanistan oder Syrien weiter menschenrechtswidrig wären.

„Nach jetzigem Stand halten wir es für unwahrscheinlich, dass Abschiebungen nach Afghanistan stattfinden können“, so die rechtspolitische Sprecherin. „Denn auch die Gerichte sehen ja die katastrophale Lage im Land. Dennoch haben wir schon einmal gesehen, dass Abschiebungen nach Afghanistan auf Biegen und Brechen durchgesetzt wurden. Aber damals waren die Taliban noch nicht wieder an der Macht.“