Der Bogenschütze: High-Tech-Kanone aus Schweden heizt Putins Truppen künftig ein

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Wuchtig: Die selbstfahrende schwedische Haubitze „Archer“ ist jetzt an die Front in der Ukraine verlegt worden. Ein Fortschritt für die Verteidiger, aber kein Durchbruch. © IMAGO / TT

Extrem wendig und extrem tödlich – die ukrainische Wunderkanone kommt jetzt aus Schweden. Ob sie ein Segen ist, wird sie erst noch beweisen müssen.

Kiew – Zeit bedeutet Leben in einer Feuerstellung, sagt Jack Watling. Der britische Experte wird deshalb willkommen heißen, was jetzt im Ukraine-Krieg angekommen ist: die schnellste Haubitze der Welt, wie einige Beobachter behaupten. Aus voller Fahrt heraus braucht sie 20 Sekunden, um den Feuerkampf gegen Wladimir Putins Armee aufzunehmen. Ebenso schnell ist das neue Artilleriesystem der Ukraine abmarschbereit zum Stellungswechsel. Der autonome Einsatz gegen den Aggressor aus Russland ist dabei ebenso möglich, wie der Einsatz zusammen mit anderen Geschützen im Batterie-Verbund. Allerdings ist noch keine Zeit angebrochen, die den Soldaten auf dem Schlachtfeld überflüssig werden lässt – im Gegenteil könnte High-Tech dem Soldaten sein Kriegshandwerk sogar noch erschweren.

Das neue Geschütz der Ukraine kommt aus Schweden: die FH-77BW L52 Archer (Bogenschütze)– eine Selbstfahr-Lafette mit einem Kaliber-155-mm-Artilleriegeschütz aus schwedischer Herstellung. Kern des Systems ist eine vollautomatische 155-mm-Kanonenhaubitze mit 52 Kaliberlängen, die dank einer automatischen Ladevorrichtung innerhalb von 15 Sekunden drei Schuss abfeuern kann. Sie kann zudem sechs Geschosse nacheinander so verschießen, dass alle Geschosse das Ziel zeitgleich treffen; dazu werden mehrere Granaten nacheinander mit unterschiedlichen Flugbahnen abgefeuert, sodass sie gleichzeitig im Ziel eintreffen. Die Reichweite mit der Panzerabwehrmunition vom Typ Bonus beträgt 35 Kilometer, konventionelle Munition kann auf Distanzen von bis zu 40 Kilometer und die Präzisionsmunition Excalibur auf bis zu 50 Kilometer verschossen werden, schreibt das Magazin Soldat & Technik. Seit Anfang November soll das System mit acht Einheiten an der ukrainischen Front stehen.

Artilleristische Gegenoffensive: Zeit bedeutet (Über)leben

„Der nächste Krieg wird lediglich im Cyber-Raum geschlagen“, sagte Sönke Neitzel Mitte dieses Jahres. Einer von Deutschlands bekanntesten Militärhistorikern äußerte diesen Satz als die beherrschende These vorheriger sicherheitspolitischer Konferenzen mit dem Abstand inzwischen gewachsener Erkenntnis; also mit dem inzwischen besseren Wissen, dass eine Katastrophe wie die in der Ukraine eben früher gekommen ist als befürchtet, und tatsächlich wie eh und je am Boden und vorrangig Mann gegen Mann geführt wird. Beziehungsweise in der Luft, denn genauso wie der Panzer hat auch die Artillerie ihre Hauptrolle in Russlands Krieg wiedergefunden. Oder wie das deutsche Reservistenmagazin loyal schreibt: „So ist die Artillerie zurück als Königin der Schlachten. Eine Rolle, die sie in Europa seit den Feldzügen Napoleons innehatte, bis zum Ende des Kalten Krieges.“

Vor allem Russlands artilleristische Leistung ist inzwischen am Krieg gewachsen, wie Jack Watling vom Thinktank Royal United Services Institute (RUSI) behauptet. Seiner Expertise nach hätten die Russen inzwischen die Fähigkeit entwickelt, ukrainische Artilleriestellungen innerhalb von nur zwei Minuten nach deren erstem Schuss mit Gegenfeuer zu belegen. Vorher hatten die russischen Soldaten fünf bis 20 Minuten zum Gegenschlag benötigt. Offenbar ist dies nicht durch Einführung neuer Systeme geschehen, sondern alleine deswegen gelungen, weil die Russen den Prozessablauf verschlankt hätten, indem den schießenden Artilleriekräften direkter Zugriff auf die dafür notwendigen Zielortungsfähigkeiten ermöglicht wurde.

Schwedens Wunderkanone: Schlag auf Schlag gegen Putins Truppen

Watling: „Diese Entwicklung zeigt, wie wichtig der mobil geführte Einsatz (Shoot & Scoot) der eigenen Feuerunterstützung mittels Artillerie und Mörsern ist, damit diese im Gefecht überleben. Aus diesem Grund müssen die zukünftigen Artilleriesysteme dazu befähigt werden, die Verweildauer in der Feuerstellung, also die Dauer zwischen dem ersten Schuss und dem Verlassen der Feuerstellung, weiter zu verkürzen.“ Das Archer-System ist auf Mobilität ausgelegt und insofern eine wichtige Lebensversicherung der ukrainischen Verteidiger.

„Der 28. September 2015 ist ein Tag, den Mikael Take nicht vergessen wird“, schreibt das Rüstungsunternehmen BAE Systems auf seiner Homepage. An dem Tag endeten für den schwedischen Ingenieur zwei Jahrzehnte an Entwicklungsarbeit mit der Indienststellung des Archer-Systems bei den schwedischen Streitkräften. „Die Fähigkeit von Archer, innerhalb von 20 Sekunden schussbereit zu sein und sich innerhalb von 20 Sekunden nach dem Abfeuern der letzten Patrone wieder zu bewegen, macht das System ebenfalls zu einer Klasse für sich. Archer hat standardmäßig eine Besatzung von drei Personen, kann aber bei Bedarf auch von einer einzelnen Person bedient werden“, schreiben BAE Systems. Auch, wenn das System komplett aus der geschützten Fahrerkabine heraus bedient werden kann: Praktiker halten dieses Tempo für einen „Partytrick“, wie sie sagen.

Vollautomatische Geschütze: in der Ukraine von Störungen geplagt

Beispielsweise schreibt der ehemalige israelische Artillerie-Offizier Tzvi Koretzki auf einem Militär-Blog: „Eine automatische Waffe ist mit einer relativ geringen Anzahl an Granaten und deren definierten Projektilmischung geladen. Nachdem diese Granaten verfeuert sind, ist der Nachschub ein relativ zeitaufwändiger Prozess. Angesichts ihrer Komplexität und ihres hohen Preises ist die Gesamtzahl dieser Waffen relativ gering. Das Gesamtergebnis ist eine Feuerplattform, die „stoßartiges“ Feuer erzeugen kann, dann aber für die Dauer der Nachschubzeit nicht verfügbar ist.“ Rund zehn Minuten wird für das komplette Nachladen des Archer veranschlagt. Darüber hinaus hält Koretzki die eingesetzten vollautomatischen Systeme für störanfällig.

Bezüglich der deutschen Panzerhaubitze 2000 bezieht er sich mit seiner Kritik auf einen Bericht der New York Times: Diese Waffen enthalten Elektronik, die so anfällig für Schmutz und Feuchtigkeit sei, dass Soldaten beim Betreten der Fahrzeuge Hausschuhe oder Stiefeletten tragen müssten, damit sie nicht im Schlamm versinken. Jeder Haubitze liege sogar ein Staubsauger bei und die Läufe müssten teilweise mit einer langen Bürste gereinigt werden. „Der Panzer liebt Sauberkeit wirklich“, zitierte die Times einen Artilleriekommandanten. „Wenn man zwei volle Ladungen Munition abfeuert, muss man einen Tag damit verbringen, sie zu überholen.“ Das Magazin des Archer fasst 21 Patronen und um die Waffe wieder aufzufüllen, benötigt eine geschulte Besatzung zehn Minuten mit einem speziellen ARV (Ammunition Resupply Vehicle), das mit einem speziellen Ladekran ausgestattet ist. 

Automatisierung der Bundeswehr bringt wenig Entlastung für die Truppe

Koretzkis Fazit: Moderne, voll automatisierte Artillerie erfordere einen „just-on-time“-Logistikansatz, ohne den die Waffe nie zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Munition einsatzbereit sein könne. Dieser Ansatz kann mit automatischen und schnell verlegbaren Haubitzen aufgrund der Unwägbarkeiten auf dem Schlachtfeld nur sehr schwer umgesetzt werden, sodass der Zeitgewinn des Systems durch eine schwerfällige Logistik wieder zunichtegemacht werden könnte.

Die „Kriegstüchtigkeit“ der Bundeswehr allein durch die Automatisierung der Waffen ist also kaum zu realisieren, wie das Reservistenmagazin loyal analysiert. Geplant sei zwar der verstärkte Einsatz von Robotik vor allem in der Logistik – allerdings zöge die neue Technik ebenso wieder neuen Personalbedarf nach sich, so Oberstleutnant Felix Lotzin: „Für diverse und zahlreiche weitere Techniken bräuchte es zusätzliche Logistiker und Techniker, die rekrutiert und ausgebildet werden müssen. Schon jetzt gilt für Nato-Streitkräfte die Faustformel, dass auf einen Kampftruppen-Soldat zehn Unterstützungskräfte kommen.“ Dem Fluch der notwendigen Masse werde die Bundeswehr also weder durch KI noch Robotik entkommen.“

Auch deutsche Politikwissenschaftler sehen den High-Tech-Hype westlicher Armeen zunehmend kritisch: Der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala schreibt in seinem neuen Buch „Bedingt abwehrbereit“: „Der Schützenpanzer Puma zum Beispiel ist ein gepanzerter Computer, der – genauso wie alle anderen Computer auch – eine hohe technisch bedingte Störanfälligkeit aufweist. Wir brauchen beides, also das Hochkomplexe und das Robuste.“

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