Extreme Verlustängste: "Er meldet sich stundenlang nicht bei mir!"

Ich bin Anfang 30 und mit meinem Partner seit knapp einem Jahr in einer Beziehung. Wir sind vor kurzem zusammengezogen. Ich liebe ihn, aber immer häufiger habe ich Zweifel, ob er mich ebenfalls liebt und die Beziehung tatsächlich möchte. Denn er zieht sich häufig zurück, braucht viel Zeit für sich selbst und meldet sich manchmal stundenlang nicht.

In solchen Momenten steigen starke Zweifel und Ängste auf. Innerlich zerreißt es mich manchmal und ich weiß nicht weiter. Es ist vor allem die Angst, nicht zu genügen, etwas falsch gemacht zu haben oder verlassen zu werden.

Ich möchte verstehen, was da mit mir passiert, ob ich etwas falsch mache und ob er vielleicht doch nicht der richtige Partner ist.

Team Love
Wieland Stolzenburg, Regina Heckert, Nina Grimm, Wera Aretz, Stefan Woinoff (v.r.n.l.) FOCUS online

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  • Beziehungsexperte Wieland Stolzenburg: Autor und Psychologe hinter den Kulissen bekannter Reality-TV-Produktionen.
  • Sex-Expertin Regina Heckert: Sexualberaterin, Autorin und Leiterin der größten Tantraschule Deutschlands.
  • Familien-Expertin Nina Grimm: Familienpsychologin, Verhaltenstherapeutin, Bestseller-Autorin und Mutter.
  • Dating-Expertin Wera Aretz: Professorin für Wirtschaftspsychologie, systemische Paartherapeutin und Expertin für Online-Dating.
  • Beziehungsexperte 50+ Stefan Woinoff: Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychotherapeut und Experte fürs Dating in der zweiten Lebenshälfte.

Verlustängste entstehen in der Kindheit

Unsere Kindheit ist entscheidend, welchen Bindungsstil wir haben. Sind wir sicher gebunden, können wir dem Partner leichter vertrauen, uns in der Beziehung fallen lassen, und uns fällt es leichter, zu lieben und geliebt zu werden.

Für Menschen mit Bindungsangst, einem vermeidenden Bindungsstil, ist zu viel Nähe unangenehm, sie brauchen viel Zeit und Raum für sich und haben Angst, sich fallen zu lassen und gehen daher immer wieder auf Distanz, gerade dann, wenn Nähe entsteht.

Dagegen ist für Menschen mit Verlustangst, wie meine Klientin, zu viel Distanz die Gefahr. Menschen mit einem ängstlichen Bindungsstil suchen nach Nähe, Sicherheit und Verbindlichkeit.

Unser Bindungsstil wird vor allem durch frühe Beziehungserfahrungen geprägt. Beispielsweise durch emotionale Unsicherheit in jungen Jahren oder frühere Beziehungen, in denen man sich nicht sicher oder gewollt gefühlt hat.

In späteren Partnerschaften werden diese alten Muster oft unbewusst reaktiviert, mit spürbaren Folgen.

In der Dynamik – eine Person sucht nach Verbundenheit, Nähe und Sicherheit, die andere nach Freiraum, Rückzug und Unabhängigkeit – werden beide herausgefordert und es kommt zu Konflikten, Missverständnissen und Entfremdung.

5 Tipps zum Umfang mit Verlustangst

Was kann helfen, wieder mehr positive Gefühle in der Beziehung zu erleben? 5 Tipps im Umgang mit Verlustangst:

1. Realitätscheck: Was passiert wirklich?

Wenn der Partner sich zurückzieht, entsteht häufig sofort die automatische Interpretation: „Er liebt mich nicht mehr“ oder „Ich bin ihm egal - vielleicht trennt er sich bald.“

Solche Gedanken verstärken die Unsicherheit und vergrößern die Angst weiter. Hilfreich ist es, bewusst innezuhalten und die Realität ehrlich zu prüfen: Was weiß ich gerade mit Sicherheit? Was vermute ich nur? Und was fühle ich, ohne es sofort bewerten zu müssen?

Die Zeit zwischen dem Reiz, beispielsweise „er meldet sich nicht“ und der Reaktion - „ich glaube, dass er eine andere Frau hat“ sollten wir vergrößern, um nicht automatisch reagieren zu müssen. Je besser wir erkennen, was von außen kommt und was aus ihrem Inneren stammt, desto mehr Frieden gewinnt sie.

2. Annahme: Die Angst nicht bekämpfen

Wichtig ist es ebenfalls, dass sich die Verlustangst nicht einfach „wegmachen“ lässt. Aber wir können sie verstehen und uns selbst beruhigen und heilen.

Es geht in der Arbeit in meiner Praxis dann darum, dieser Angst eine Form zu geben, ein Bild, einen inneren Ort und ein Symbol. Ziel ist, dass wir nicht mehr impulsiv aus der Angst heraus handeln, sondern in Beziehung zu der Verlustangst treten und sie im ersten Schritt annehmen. Damit können wir einen anderen Umgang finden, auch wenn der Partner sich gerade distanziert oder kalt wird.

3. Gesunde Kommunikation statt Vorwürfe

Viele Gespräche in Partnerschaften mit gegensätzlichen Bindungsstilen verlaufen nach einem ähnlichen Muster: Der eine Partner klagt an, der andere zieht sich als Folge noch weiter zurück.

Die Herausforderung liegt darin, das eigene Bedürfnis klar und ohne Vorwurf zu kommunizieren. Zum Beispiel: „Ich habe festgestellt, dass mir Sicherheit fehlt, wenn du länger nicht antwortest. Ich weiß, du brauchst deinen Freiraum und gleichzeitig hilft es mir, wenn ich zumindest kurz etwas von dir hören.“

Solche Sätze klingen einfach, aber sie können die Dynamik stoppen. Denn Worte wie diese verbinden, statt den Partner mit Vorwürfen unter Druck zu setzen.

4. Selbstverantwortung: Ich bin für mich verantwortlich

Von Menschen mit Verlustangst höre ich häufig Sätze wie: „Ich will einfach nur, dass er mir das Gefühl gibt, dass ich ihm wichtig bin.“ Das ist ein verständliches Bedürfnis.

Dennoch kann genau in dieser Erwartung eine Falle liegen: Die eigene innere Stabilität wird an das Verhalten des Partners geknüpft. Das macht uns abhängig und schürt die Angst noch mehr, da der Partner - häufig unbewusst - verantwortlich gemacht wird, wie es uns geht.

Das Ziel in der Arbeit mit meinen Klienten ist es, sie zu unterstützen, die emotionale Verantwortung wieder zu sich selbst zurückzuholen. Nicht, um unabhängig zu sein, sondern um sich nicht mehr ausgeliefert zu fühlen.

5. Heilung: Alte Prägungen auflösen

Bei Verlustangst entsteht dauerhafte Veränderung dann, wenn wir nicht nur neue Strategien im Alltag anwenden, sondern die tieferen Wurzeln verstehen und den Schmerz dahinter heilen.

Ein zentraler Ansatz dabei war die Arbeit mit dem inneren Kind. Sich in der Vorstellung um die 7-Jährige kümmern, die damals als Kind häufig abends aufwachte und beide Eltern waren außer Haus - und sie in Todesangst. Mit meinen Klienten unternehme ich viele innere Kind-Reisen, in denen sie sich als Erwachsene um die Kleine oder den Kleinen kümmern und für das „innere Kind“ so da sind, wie es damals wichtig gewesen wäre: Liebevoll, unterstützend und mit viel Sicherheit und Zuverlässigkeit.

Mit einer solchen Imagination kann man an der Ursache von Verlustängsten arbeiten und diese nachhaltig verändern.

Verlustängste kann man überwinden

Verlustangst ist keine Schwäche und auch keine Überempfindlichkeit. Es ist eine menschliche Reaktion auf schmerzhafte Erfahrungen - meist in der Kindheit. Wir können einen anderen Umgang damit finden und sie mehr und mehr auflösen. Nicht durch Wegschieben oder Ignorieren, sondern durch bewusste Auseinandersetzung sowie durch neue Erfahrungen: innerlich, aber auch in der Partnerschaft.

Diese Klientin hat den entscheidenden ersten Schritt gemacht: Sie befasst sich mit sich, statt sich weiter im Schmerz zu verlieren. Und jeder kleine Schritt brachte sie mehr zu sich selbst, einer inneren Sicherheit und Vertrauen dem Partner gegenüber und damit einer erfüllenden Beziehung.

Wieland Stolzenburg ist Beziehungspsychologe und Autor. Er begleitet Menschen mit Büchern, Online-Kursen und Beratung auf ihrem Weg zu erfüllenden Beziehungen - zu sich selbst, ihrem Partner und anderen. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.