Er will Putin stürzen: Russischer Neonazi ist umstrittener Verbündeter Kiews
Für die Ukraine kämpfen auch russische Nationalisten. Wie stark sie mit den regulären Truppen zusammenarbeiten, ist unklar – auch bei einem Neonazi, der in Deutschland aufwuchs.
Kiew – Es ist ein schmaler Grat. Einerseits ist die Ukraine im Krieg mit den russischen Invasoren auf jede Hilfe angewiesen, gerade aus dem Ausland. Andererseits vertreten aber nicht alle Unterstützer, die Kiew im Kampf gegen Putin beistehen, jene Werte, nach denen das EU-Bewerberland strebt: Demokratie, Menschenrechte für alle und Vielfalt. Der russische Neonazi Denis Kapustin ist mit Sicherheit einer dieser umstrittenen Verbündeten. Mit seinen Kämpfern vom Russian Volunteer Corps (RVC) zieht er auf Seiten der Ukraine in den Krieg, befeuert aber auch die russische Mär von der angeblich notwendigen „Entnazifizierung“ des Gegners – „ein Geschenk des Himmels für russische Propagandisten“, wie die Zeitung Politico es nennt.
Für ein Interview hat sich das Blatt mit Kapustin in einem Hotel in Kiew getroffen. Seit 2017 soll der 40-Jährige mit eigener rechtsextremer Bekleidungsfirma in der ukrainischen Hauptstadt leben, nachdem er zuvor gut eineinhalb Jahrzehnte in Nordrhein-Westfalen beheimatet war und dort wohl engen Kontakt zu Neonazi-Kadern pflegte und sich in der Hooligan-Szene etablierte. Im Alter von 17 Jahren mit den Eltern nach Kiew gezogen, habe er sich einst schnell einen Ruf als „straßenschlägernder White-Power-Skinhead“ erarbeitet, schreibt Politico im Bericht vom Mittwoch (3. April).
In Deutschland aufgewachsener Rechtsextremer aus Russland kämpft auf Seiten der Ukraine gegen Putin
Die Zeiten, in denen er als Jugendlicher mit Einwanderern auf der Straße gekämpft habe, seien aber „längst vorbei“, beteuert der gebürtige Moskauer, der 2019 aus Deutschland ausgewiesen wurde und den Schengen-Raum seither nicht mehr betreten darf. „Wir dachten, der Einwanderer sei der Feind. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist Putins Regierung“, sagt er im Gespräch mit der Zeitung. Der russische Präsident sei „das Schlimmste, was Russland passieren kann“. Deshalb ergreift der Nationalist die Waffen gegen das eigene Land und gegen die „ehemaligen Kameraden“ aus der Szene. „Sie halten mich für einen Verräter. Ich halte sie für Verräter.“
Tatsächlich sind die russischen Rechten seit Kriegsbeginn tief gespalten. Viele beteiligen sich an den Kämpfen – und zwar auf beiden Seiten. Kapustin, der auch unter dem Namen Denis Nikitin bekannt ist und in Kiew jahrelang Mixed Martial Arts-Events für Rechtsextreme organisierte, gründete im Jahr 2022 das sogenannte Russian Volunteer Corps – als Sammelbecken für ultrarechte Russen im Exil. Das Freiwilligenkorps besteht ausschließlich aus russischen Staatsbürgern, kämpft aber an der Seite der ukrainischen Armee. Laut eigenem Manifest will die Gruppe Putin stürzen und einen ethnisch russischen Staat schaffen. Der Machthaber ist ihnen nicht nationalistisch genug. Ukrainische Behörden vermuten, dass das Korps nach einem eventuellen Zusammenbruch der Putin-Regierung in Russland einmarschieren könnte.
Rechtsextreme Partisanen aus Russland griffen Dörfer im Grenzgebiet an
Seit Beginn des Krieges haben Kapustin und seine Männer bereits einige Operationen auf russischem Territorium durchgeführt. Beim bislang wohl größten Angriff im Mai 2023 stürmten das Freiwilligenkorps und eine weitere Gruppe, die Legion der Freiheit Russlands, in der russischen Belgorod-Region mindestens drei Dörfer. Auch aufgrund eines öffentlichkeitswirksamen Auftritts vor der Presse machten sie sich danach einen Namen. „Jede Überquerung der russischen Staatsgrenze und erfolgreiche Rückkehr kann man definitiv als Erfolg bezeichnen“, sagte Kapustin damals.
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Ein knappes Jahr später wiederholten die Partisanen die Angriffe und rückten jüngst Mitte März in den Regionen Belgorod und Kursk vor. In mehreren Posts auf Telegram erklärten die „russischen Befreiungskräfte“, wie sie sich selbst bezeichnen, ihr Vorgehen und wandten sich auch direkt an die Bevölkerung in den russischen Regionen. Diese wollen sie „vom Terrorregime des Kreml“ befreien, wie es hieß.
Grad der Verbindung der russischen Partisanen mit ukrainischer Armee unklar
Inwieweit die russischen Partisanen dabei mit der Ukraine zusammenarbeiten, ist unklar. Die Kämpfer hätten auf eigene Faust gehandelt, erklärte die Ukraine nach dem Angriff im vergangenen Jahr, und auch Kapustin sagte, die Entscheidungen auf russischem Staatsgebiet wären „unsere eigenen“ gewesen. Allerdings habe es eine gewisse „Ermutigung und Hilfe und Unterstützung“ gegeben.
Im Politico-Interview äußert er sich nun deutlich. „Wir sind ein offizieller Teil der ukrainischen Armee, aber wir haben ernsthafte politische Ambitionen und eine politische Agenda – Putin loszuwerden“, zitiert ihn die Zeitung. Nach der Grenzüberschreitung hätten die Milizen Handlungsfreiheit, der militärische Geheimdienst der Ukraine leiste aber logistische Hilfe, überprüfe Einsatzpläne und Waffen und zahle diese auch.
In eine ähnliche Richtung gehen auch Aussagen von Alexei Baranovsky von der Legion der Freiheit Russlands. „Wenn wir uns auf dem Territorium der Ukraine befinden, sind wir Soldaten der ukrainischen Armee, gleich in allen Rechten und Pflichten aller anderen Soldaten der Ukraine. Wenn wir das Territorium Russlands betreten, sind wir keine ukrainischen Soldaten mehr, sondern russische Staatsbürger, die zu den Waffen gegriffen haben“, sagte er zu Politico.
Ukraine zwiegespalten im Umgang mit den russischen Unterstützern
Die Zeitung stellt einen Konflikt innerhalb der Ukraine heraus. Denn obwohl auch auf russischer Seite Neonazi-Gruppen kämpfen, bieten die Separatisten Moskau doch die Möglichkeit, den Vorwand für den Krieg – eine „Entnazifizierung“ der Ukraine – zu untermauern. Einige in der regulären Armee missbilligten daher die Verbindung und stellten „die Propagandanachteile ihres Einsatzes“ heraus, wie es ein nicht genannter Beamter aus dem Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine ausgedrückt haben soll. Für den Leiter des Geheimdienstes, Kyrylo Budanov, sei das Unternehmen hingegen ein Lieblingsprojekt. Der Feind meines Feindes ist mein Freund – so sehe der Geheimdienst die Angelegenheit.
Kapustin selbst ist sich seiner zwiegespaltenen Rolle wohl bewusst, er genieße den Streit mit den hin- und hergerissenen Journalisten, meint Politico. „Wir sind die Bösen, kämpfen aber gegen die wirklich Bösen“, sagt Kapustin im Interview und zieht den Vergleich zur Cinematografie. „Mein ganzes Leben lang wollte ich immer der Bösewicht im Hollywood-Stil sein. Darth Vader ist meine ultimative Inspiration.“ Jahrelang hätte die Presse versucht, „uns in ein schlechtes Licht zu rücken“. Nun erwiesen sich „die ewigen Bösewichte als mutig, entschlossen, stur – als Helden.“
Wie hoch ist die Wirkung der Angriffe der russischen Partisanen im Ukraine-Krieg
Ob die Partisanen einen entscheidenden Beitrag zum Kriegsgeschehen leisten können, wird sich weisen. Wie die Zeit am 22. März berichtete, hätte es beim jüngsten Angriff im russischen Grenzgebiet auf beiden Seiten kaum technische Verluste gegeben. Dies spreche für einen „eher begrenzten Charakter der Kämpfe“. Die Angreifer hätten vieles versucht, um diese größer aussehen zu lassen. Militärexperten und unabhängige Beobachter aus der Ukraine zweifelten ohnehin am militärischen Nutzen der Attacken. Die Aufmerksamkeit von Wladimir Putin ist den Partisanen aber sicher. Nach dem Angriff spottete der russische Präsident über seine Gegner. (flon)