USA-Experte Josef Braml - Ohne eigene Abschreckung wird Europa nach der Ukraine das nächste Opfer in neuer Weltordnung
Die Eskalation im Weißen Haus zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj wird geopolitische Folgen haben. US-Experte Dr. Josef Braml ordnet die nun veränderte Lage ein - Auswirkungen gibt es vor allem für Europa.
Beim jüngsten Treffen im Weißen Haus demonstrierten US-Präsident Trump und sein Vize J.D. Vance dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dessen Machtlosigkeit und Abhängigkeit. Ohne Amerikas Unterstützung gerate die Ukraine auf die Verliererstraße und habe „schlechte Karten“, drohte Trump.
Europa muss dringend eigene Abschreckungskapazitäten aufbauen, um nicht wie die Ukraine das Opfer eines immer deutlicher werdenden Großmachtspiels in einer auf Militärmacht fußenden neuen Weltordnung zu werden. Es ist höchste Zeit, dass sich die Europäer neben vertrauensbildenden Maßnahmen gegenüber Russland auch über eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten Gedanken machen – im konventionellen wie im nuklearen Bereich –, auch um möglichen Erpressungsversuchen oder gar Aggressionen der russischen Führung vorzubeugen.
Zweifel an der Sicherheitszusage aus den USA
Als Europas Führungsmächte wären Deutschland und Frankreich gut beraten, sich strategisch und im Dialog auf eine in ihren Grundzügen bereits absehbar gefährlichere Zukunft einzustellen, in der die USA aus innenpolitischen, aber auch aus geostrategischen Gründen nicht mehr für die Sicherheit des europäischen Kontinents garantieren können oder wollen.
Über Josef Braml

Dr. Josef Braml ist einer der weltweit renommiertesten USA-Experten und der European Director der Trilateralen Kommission – einer einflussreichen globalen Plattform für den Dialog eines exklusiven Kreises politischer und wirtschaftlicher Entscheider/innen Amerikas, Europas und Asiens zur kooperativen Lösung geopolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme. Dr. Braml verfügt über 20 Jahre Erfahrung in angewandter Forschung und Beratung weltweit führender Think Tanks, unter anderem bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dem Aspen Institut, der Brookings Institution, der Weltbank und als legislativer Berater im US-Abgeordnetenhaus.
Schon seit Längerem ist fraglich, ob Amerikas „erweiterte nukleare Abschreckung“ und das zugrunde liegende Sicherheitsversprechen überhaupt glaubwürdig sind und im Ernstfall eingelöst würden. Selbst amerikanische Sicherheitsexperten bezweifeln – und dies nicht erst seit Trumps zweiter Amtszeit –, ob ein US-Präsident wirklich bereit wäre, wegen der Sicherheitszusage gegenüber weit entfernten europäischen Staaten die Zerstörung einer amerikanischen Millionenstadt durch russische Langstreckenraketen zu riskieren.
Europa muss seine Fähigkeiten bündeln
Dass die Europäer durchaus die Voraussetzungen dafür hätten, sich selbst zu verteidigen, belegt die Tatsache, dass die EU-Mitgliedstaaten zusammen fast dreimal so viel für Verteidigung ausgeben wie Russland. Die russische Invasion in die Ukraine bewirkte zudem, dass Deutschland nunmehr seine Nato-Verpflichtung erfüllen will, nämlich mindestens zwei Prozent der Wirtschaftskraft (BIP) in Verteidigung zu investieren.
Es geht aber nicht nur darum, sehr viel höhere Verteidigungsausgaben vorzusehen, sondern effizienter zu investieren, um die nötigen Fähigkeiten zu entwickeln, indem man etwa im europäischen Rahmen Waffensysteme gemeinsam einkauft und weiterentwickelt.
Durch „pooling & sharing“ ihrer Fähigkeiten könnten die Europäer auch ihrer Diplomatie mehr Gewicht verleihen. Denn Diplomatie bleibt ohne militärische Fähigkeit bekanntlich heiße Luft. Auf diese Weise könnten die europäischen Staaten das Risiko minimieren, dass Moskau und Washington einen Deal aushandeln, bei dem sich die Europäer nicht am, sondern auf dem Verhandlungstisch wiederfinden.
Die Realität sieht spätestens seit Trumps zweiter Amtszeit anders aus
Mittlerweile sollte klar geworden sein, dass die Rolle der Verbündeten der USA darin besteht, den Interessen der USA zu nützen. Dies war nur so lange auch für die Verbündeten attraktiv, wie die USA sich auf die Erhaltung einer regelbasierten internationalen Ordnung und ihrer Institutionen konzentrierten, den Freihandel garantierten und sich um Sicherheit und Stabilität kümmerten.
Doch die Realität sieht spätestens seit Trumps zweiter Amtszeit anders aus. Die strategischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer europäischen Verbündeten stimmen inzwischen in einer ganzen Reihe von Bereichen nicht mehr mit denen der amerikanischen Führungsmacht überein. Und wenn es zum Konflikt kommt, wird den Europäern ihre sicherheitspolitische Ohnmacht immer deutlicher vor Augen geführt.
Unter Trump wird die EU in den USA als geostrategischer Rivale betrachtet
Unter Donald Trump wurde unübersehbar, dass in den Augen amerikanischer Sicherheitsstrategen die Europäische Union nicht nur als wirtschaftlicher Konkurrent, sondern auch als geostrategischer Rivale betrachtet werden kann.
Während in Obamas Amtszeit bereits Handlungen ans Licht der Öffentlichkeit gekommen waren, die sich „unter Freunden“ nicht gehören, fügte Trump eine angesichts seiner Europa gegenüber feindlichen Haltung folgerichtige Drohung hinzu: den Rückzug der USA aus der Nato, die das Ende der westlichen Allianz bedeuten würde.
Diese Gefahr schien zwar unter der Führung Joe Bidens und nach Russlands kriegerischem Vorgehen in der Ukraine vorerst gebannt. Doch das Verhältnis zwischen Europa und den USA wird nicht nur von den innenpolitischen Entwicklungen in den USA beeinflusst, die Trump erneut ins Amt befördert haben, sondern auch von der neuen weltpolitischen Lage.
In dem Maße, in dem sich die USA auf einen größeren und fähigeren Gegner, namentlich China, in Asien einstellen, werden sie weniger Ressourcen zur Verfügung haben, Europa gegen eine mögliche russische Aggression zu verteidigen.
Nach dem Ansinnen der USA sollen die Europäer militärisch und technologisch abhängig bleiben
Die Europäer, insbesondere Deutschland, werden es in Zukunft auch schwerer haben, ihre wirtschafts-, handels- und währungspolitischen Interessen gegenüber ihrer „Schutzmacht“ zu wahren. Solange die Vereinigten Staaten über ihre Verhältnisse leben, werden sie andere produktions- und exportstarke Länder benötigen und sie auch weiterhin dazu nötigen, deren aus den Exportgeschäften erwirtschafteten Währungsreserven den USA als Kredite zur Finanzierung ihrer Schulden zu geben. Zusätzlich sollen nach dem Ansinnen Washingtons die Europäer dann noch mehr Geld ausgeben für amerikanische Rüstungsgüter und damit militärisch und technologisch abhängig bleiben.
Zuletzt sind von Dr. Josef Braml das mit Mathew Burrows verfasste Buch „Die Traumwandler. Wie China und die USA in einen neuen Weltkrieg schlittern“ und sein weiterhin aktueller Bestseller „Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können“ erschienen.
In ihrem neuen Buch „World to Come – The Return of Trump and the End of the Old Order“ beschreiben Braml und Burrows die Gefahren und Chancen der neu entstehenden Weltordnung.
Diese Interessenlogik wurde besonders deutlich, als es um die Ersetzung deutscher Tornado-Kampfjets durch das Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeug F-35 Lightning II des amerikanischen Herstellers Lockheed Martin ging, die auch von der Biden-Regierung bewusst mit der Machtfrage der sogenannten nuklearen Teilhabe verknüpft wurde.
Deutschland delegiert Entscheidung über nationale Sicherheit in Hand des US-Präsidenten
Diese „nukleare Teilhabe“ hat insbesondere für die USA einen mehrfachen Nutzen: Mit dieser geographisch erweiterten Form der nuklearen Abschreckung soll der Austragungsort einer nuklearen Auseinandersetzung und Zerstörung möglichst weit weg von Amerika, jenseits des Atlantischen Ozeans in Europa sein, um dort wie seinerzeit schon dem Übergewicht der Streitkräfte des Warschauer Paktes heute ebenso Russlands möglicher strategischer Überlegenheit bei konventionellen Waffen zu begegnen – ohne dass Staaten wie Deutschland dafür selbst Atomwaffen erwerben.
Indem die Bundesregierung die „nukleare Teilhabe“ fortführt, delegiert sie letztendlich die Entscheidung über Deutschlands nationale Sicherheit und das Überleben seiner Bürger in die Hand des Amtsinhabers im Weißen Haus. Nicht zuletzt will US-Präsident Trump aus dem Schutzversprechen auch politisch und wirtschaftlich Kapital schlagen.
Aufrüstung in Deutschland - mit Waffen aus den USA?
Um dafür zu sorgen, dass Deutschland mehr für Rüstung ausgibt, das in der Nato vereinbarte und von den USA angemahnte Ziel von zwei (oder bald fünf) Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht und auch seinen Außenhandelsüberschuss gegenüber den USA verringert, wird Berlin angehalten, sich für amerikanische Waffensysteme zu entscheiden, nicht zuletzt auch, um unter dem amerikanischen Nuklearschirm zu verbleiben.
Doch diese Investition können in strategischer Sicht auch das geplante europäische Rüstungsprojekt, das deutsch-französische Zukunftsprojekt Future Combat Air System (FCAS), untergraben.
Die nächste Bundesregierung muss außenpolitisch mutiger denken und alte sicherheitspolitische Gewissheiten hinterfragen. Angesichts des zunehmenden Fokus der USA auf China ist eine europäische Lösung notwendig. Deutschland und Frankreich sollten ihre Verteidigungspolitiken tief integrieren, einschließlich der französischen Nuklearstreitkräfte, um Europas Sicherheit zu gewährleisten.
Frankreich trägt mit Atomwaffen zum Abschreckungspotential der westlichen Allianz bei
Indem Deutschland sein sicherheitspolitisches Schicksal an Frankreich, die zweite Führungsmacht auf dem Kontinent, bände, wäre zudem sichergestellt, dass nicht wieder die „deutsche Frage“ und die historisch begründete Furcht vor Deutschlands Großmachtbestrebungen seine Nachbarn und andere europäische Partner verunsichern. Denn das Kommando über die „Force de Frappe“ hat der französische Präsident.
Frankreichs nukleare Abschreckung gegen die Bedrohung durch den damaligen Warschauer Pakt war von Beginn an auch durch sein Bestreben motiviert, seinen Großmachtstatus aufrechtzuerhalten und sich aus der militärstrategischen Abhängigkeit von den USA zu lösen. Gleichwohl trägt Frankreich mit seinen Atomwaffen auch zum Abschreckungspotential der westlichen Allianz bei. Mit der anderen europäischen Atommacht Großbritannien verbindet Frankreich eine enge Zusammenarbeit und auch ein Verständnis gemeinsamer „vitaler Interessen“ und ein Sicherheitsversprechen der beiden Nuklearmächte.
Frankreich wäre auch bereit, seinen atomaren Schutz in eine europäische Gesamtstrategie einzubringen. Es ist bezeichnend, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zur Erläuterung seiner Strategie zur Verteidigung und nuklearen Abschreckung einen symbolträchtigen Ort wählte: die École de Guerre, die aus der 1876 gegründeten Höheren Kriegsschule (École Supérieure de Guerre) hervorging und seitdem französische Militärs ausbildet.
Der letzte Staatspräsident, der vor Macron diese Militärakademie für eine historische Rede auswählte, war General de Gaulle, der 60 Jahre vor ihm, am 3. November 1959, die Entwicklung der französischen „Force de Frappe“ ankündigte.
Für Deutschland ist es nicht ohne Risiko, sich strategisch so eng an Frankreich zu binden
In seiner Rede am 7. Februar 2020 – die von der damaligen Bundeskanzlerin Merkel ignoriert wurde – verkündete Präsident Macron ein strategisches Projekt: Um zu unterlegen, dass er wirklich meint, was er sagt, dass nämlich Frankreichs „vitale Interessen“ nunmehr eine „europäische Dimension“ haben, bot Macron den europäischen Partnern einen „strategischen Dialog“ an, darüber zu reden, welche Rolle Frankreichs nukleare Abschreckung bei der kollektiven Sicherheit Europas spielen könnte.
Wegen der dramatischen weltpolitischen Veränderungen müssen die Europäer nach Ansicht des französischen Präsidenten alsbald mehr Verantwortung für ihre Verteidigung übernehmen, wohlgemerkt für einen „europäischen Pfeiler innerhalb der Nato“.
Frankreich und Deutschland als Motor einer Entwicklung zu einer geopolitisch handlungsfähigen EU
Natürlich ist es für Deutschland auch nicht ohne Risiko, sich strategisch so eng an Frankreich zu binden. Es nicht völlig auszuschließen, dass einmal ein Kandidat der extremen Rechten die Präsidentschaftswahlen gewinnt und in den Élysée-Palast einzieht.
Doch ein enges strategisches Bündnis mit Frankreich hat den Vorteil, dass beide Länder – geographisch bedingt – ähnliche geostrategische Interessen haben und schon durch die Tatsache aneinander gebunden werden, dass sie die beiden Führungsmächte der Europäischen Union sind.
Es gibt, bei allen Differenzen etwa in der europäischen Fiskalpolitik, also gewissermaßen natürliche Gravitationskräfte, die ein solches Bündnis unterstützen. Zusammen könnten Frankreich und Deutschland den Kern einer eigenständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik stellen und zum Motor werden für eine Entwicklung hin zu einer geopolitisch handlungsfähigen EU, die über eine eigene „Grand Strategy“ verfügt, um ihre Interessen in der neuen Weltordnung zu behaupten.
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