Kommentar von Thomas Herzing : Fall Oldenburg: Experte warnt vor vorschneller Verurteilung der Polizei
Der tödliche Vorfall in Oldenburg
Der tragische Vorfall in Oldenburg, bei dem es zum tödlichen Schusswaffeneinsatz durch die Polizei kam, sorgt für große öffentliche Aufmerksamkeit und verständliche Betroffenheit. Als Experte für polizeiliche Einsatzkonzepte und langjähriger Ausbilder im Bereich der Schießausbildung bei der Polizei möchte ich diesen Fall aus einer Perspektive beleuchten, die im medialen Diskurs oftmals zu kurz kommt: aus der Sicht des hochbelasteten Einsatzbeamten in einer Hochstresslage.
Über Thomas Herzing
Thomas Herzing ist ein international gefragter Sicherheitsspezialist und ehemaliger bayerischer Polizist. Nach seiner Auswanderung in die Schweiz war er als Fachbereichsleiter und Lehrgangsleiter an der größten Schweizer Polizeischule tätig. Seit über 10 Jahren berät er Kunden zur integralen Sicherheit und ist Sparringspartner für Führungskräfte. Auch als Impulsredner fesselt er sein Publikum anlässlich von Messen, Symposien und Firmenanlässen. Mehr unter: www.thomasherzing.ch.
Stressreaktionen und neurobiologische Prozesse
Bereits in meinen früheren Beiträgen bei FOCUS Online habe ich darauf hingewiesen, dass der Schusswaffeneinsatz durch die Polizei nicht nur eine Frage von Technik oder Ausbildung ist – sondern auch von neurobiologischen und psychodynamischen Prozessen, die in Sekundenbruchteilen ablaufen und vom Laien oft nicht nachvollzogen werden können.
Der „Kodak-Effekt“
Der sogenannte „Kodak-Effekt“ – benannt nach dem Moment eines fotografischen Schnappschusses – beschreibt die blitzschnelle visuelle Fixierung einer Bedrohungslage. Dabei kann ein Täter mit einem gefährlichen Gegenstand, etwa einem Messer, als überlebensgroße Bedrohung abgespeichert werden. Selbst wenn dieser Gegenstand bereits zu Boden gefallen ist oder der Täter sich in die Flucht begibt, bleibt dieses „Schnappschuss-Bild“ im Kopf des Beamten präsent – wie eine Zielscheibe, die nicht mehr aus dem Blickfeld zu verschwinden scheint.
Dieses Phänomen wurde in zahlreichen kriminalpsychologischen Studien untersucht. Ebenso bekannt ist der sogenannte „psychomotorische Tunnelblick“, bei dem der Beamte in einer akuten Bedrohungslage gar nicht mehr exakt wahrnimmt, wie viele Schüsse er abgegeben hat. Subjektiv erinnert sich der Schütze an einen einzelnen Schuss – objektiv schoss er sein ganzes Magazin leer. Diese Stressreaktionen sind keine Zeichen von Unprofessionalität oder gar Brutalität – sondern menschliche, biologisch erklärbare Schutzmechanismen in lebensgefährlichen Situationen.
Realitätsnahe Trainingssituationen
Besonders eindrücklich ist mir eine Reihe von Trainingssituationen in Erinnerung geblieben, in denen wir Richter und Staatsanwälte eingeladen hatten, selbst polizeiliche Einsatzlagen mit FX-Munition zu durchlaufen – also realitätsnahe Übungen mit Simulationswaffen, wie sie in der Aus- und Weiterbildung zum Einsatz kommen. Standardisierte, wiederkehrende polizeiliche Einsatzlagen wurden dabei simuliert – mit den Teilnehmern in der Rolle der handelnden Polizistinnen und Polizisten.
Nahezu alle Teilnehmenden gaben an, besonnen gehandelt und sich an die Einsatzregeln gehalten, bzw. nur einen gezielten Schuss, beispielsweise aufs Bein, abgegeben zu haben. Die Überraschung und teilweise Bestürzung war groß, als wir ihnen anschließend die Videoauswertung präsentierten: Die tatsächlichen Abläufe, die Dynamik, die Anzahl der Schüsse oder auch die Richtung, aus der die Gefahr kam – all das wich häufig erheblich von der subjektiv erinnerten Wahrnehmung ab. Es war eine eindrucksvolle Lektion in Sachen Wahrnehmungsverzerrung unter Stress, die nicht nur im polizeilichen Kontext, sondern auch in anderen Bereichen – etwa bei Verkehrsunfällen – gut dokumentiert ist.
Was folgt, ist ein klar geregelter rechtlicher Prozess: Die Waffe wird sichergestellt, es erfolgt die Spurensicherung inklusive Schmauchspurenuntersuchung, die Geschosse werden ballistisch ausgewertet und einem forensischen Tatrekonstruktionsprozess zugeführt. In der Regel folgen staatsanwaltschaftlich geleitete Ermittlungen, bei denen sowohl belastende als auch entlastende Aspekte berücksichtigt werden. Dieser Prozess ist nicht nur belastend für den betroffenen Polizisten, sondern auch ein Ausdruck eines funktionierenden Rechtsstaates.
Appell für mehr Zurückhaltung in der Bewertung
Was ich mir als Experte wünsche: mehr Zurückhaltung in der öffentlichen Bewertung, vor allem durch Nicht-Fachleute. Der Ruf nach „Polizeigewalt“ oder pauschaler „Unverhältnismäßigkeit“ wird der Komplexität solcher Einsatzsituationen nicht gerecht. Was es jetzt braucht, ist eine nüchterne, objektive Untersuchung – und die Anerkennung der Tatsache, dass sich Polizisten tagtäglich Situationen stellen müssen, die für den Durchschnittsbürger unvorstellbar sind.
Fazit
Die tragischen Umstände von Oldenburg mahnen uns, nicht nur über die Tat, sondern auch über die Rahmenbedingungen und psychologischen Belastungen polizeilichen Handelns nachzudenken. Wer sich mit Schießausbildung und Einsatzdynamik ernsthaft auseinandersetzt, weiß: Es gibt keine einfachen Antworten – aber es gibt Wege zu besserem Verständnis.
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