Ende des Ukraine-Kriegs: Experten nennen Zeitpunkt, wann Putin die Nato angreifen könnte
Die Denkfabrik IISS warnt davor, dass sich Russland nach einem Abkommen mit der Ukraine schnell erholen kann. Die Nato steht vor großen Herausforderungen.
Moskau - Russland könnte sich nach einem Ende des Ukraine-Kriegs innerhalb von zwei Jahren vollständig militärisch erholen. Zu diesem Ergebnis kommt das International Institute for Strategic Studies (IISS) in einem Bericht, der am Donnerstag (15. Mai) veröffentlicht wurde. Er basiert auf dem Szenario, dass Moskau und Kiew in den kommenden Wochen ein Abkommen für einen Waffenstillstand schließen. Sollte es soweit kommen, hätten die Mitglieder der Nato anschließend nur ein kurzes Zeitfenster, um sich für eine neue Eskalation aus Moskau zu wappnen.
Russlands Fähigkeit, das Nato-Bündnis herauszufordern, hängt laut den IISS-Experten auch davon ab, ob die USA noch in diesem Jahr ihren Rückzug aus der Nato einleiten. Dieser Schritt würde für Europa ein „Fenster der Verwundbarkeit“ schaffen, heißt es in dem Bericht.
Russland könnte die Nato bereits 2027 „militärisch erheblich herausfordern“
Sollte die US-Regierung um Donald Trump die Nato verlassen, müsste das Bündnis auf Hochdruck arbeiten, um Verluste wie Personal, Ausrüstung und Waffen auszugleichen. Die europäischen Verbündeten werden „in bestimmten Fähigkeitsbereichen schwierige Kompromisse eingehen müssen“, vermuten die Autoren. Wenn man „wichtige Teile“ des US-Beitrags „direkt ersetzen“ wolle, müsste man sich auf Kosten von rund eine Billion US-Dollar einstellen.
Den Nato-Verbündeten bliebe nicht viel Zeit, diese Lücken zu schließen. „Wir kommen zu dem Schluss, dass Russland ungeachtet der Herausforderungen bereits 2027 in der Lage sein könnte, die NATO-Verbündeten, insbesondere die baltischen Staaten, militärisch erheblich herauszufordern“, schreiben die Experten. „Bis dahin könnten Russlands Bodentruppen durch eine Kombination aus Überholung und Produktion neuer Systeme den Bestand an aktiver Ausrüstung vom Februar 2022 widerspiegeln.“ Zudem seien Luft- sowie Seestreitkräfte von dem Krieg weitgehend unberührt geblieben.
Putins Chancen gegen Europa, sollte die USA aus der Nato austreten
Der Bericht des IISS deckt sich mit Einschätzungen von Experten, die sich in den vergangenen Monaten bereits beunruhigt geäußert hatten. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, warnte im März vor den langfristigen Zielen Russlands: „Ein frühes Kriegsende in der Ukraine befähigt die Russen, ihre Energie dort einzusetzen, wo sie sie eigentlich haben wollen, nämlich gegen Europa.“ Russlands Präsident Wladimir Putin wolle vor allem die Nato zurückdrängen, um seinen Einfluss nach Westen auszuweiten - „am besten ohne die Amerikaner in Europa“.
Wenn der Ukraine-Krieg früher zum Stillstand komme als 2029 oder 2030, sei Russland auch früher in der Lage, mit seinen technischen, materiellen und personellen Mitteln eine Drohkulisse gegen Europa aufzubauen, betonte Kahl.
Auch Frankreichs Premierminister Emmanuel Macron sagte im März, dass die russische Bedrohung über die Grenzen der Ukraine hinausgeht. „Wenn ein Land ungestraft in seinen europäischen Nachbarn einmarschieren kann, können wir uns in der Tat keiner Sache mehr sicher sein“, warnte der Franzose in einer Ansprache. „Die russische Bedrohung geht über die Ukraine hinaus und betrifft jedes Land in Europa.“
Eine Nato ohne die USA: Diese Herausforderungen würden auf Europa zukommen
Sollte das von der IISS gezeichnete Szenario eintreten, steht die Nato demnach vor einer großen Herausforderung. Unter anderem müssten wichtige US-Militärplattformen und schätzungsweise 128.000 Mann ersetzt werden. Zudem gäbe es Defizite in den Bereichen Raumfahrt und bereichsübergreifende Nachrichten-, Überwachungs- und Aufklärungssysteme zu beheben.
Es wird demnach schwierig, die US-Fähigkeiten in der Nato zu ersetzen. Vor allem angesichts der Tatsache, dass Europas Rüstungssektor mit Russland nicht mithalten kann. Trotzdem sei die Mobilisierung der finanziellen Ressourcen und die Umsetzung möglich. Europa könnte laut den IISS-Experten zum Beispiel einige lange Vorlaufzeiten verkürzen, indem es erhebliche Investitionen in die industriellen Fähigkeiten Europas tätigt. (nz/afp)