Streecks extremer Vorschlag: Spart es wirklich Geld, wenn wir Senioren sterben lassen?

Das deutsche Gesundheitssystem wird immer teurer und so beraten Politiker darüber, wie sich Geld sparen ließe. Ideen liegen viele auf dem Tisch, etwa eine Kontaktgebühr oder die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen. Aber Hendrik Streeck, selbst Mediziner und seit März Bundestagsabgeordneter und Drogenbeauftragter der Bundesregierung, hat jetzt im Gespräch mit Welt TV einen neuen, besonders makabren Vorschlag gemacht: Wie wäre es, wenn der Staat bestimmt, wie alt Menschen werden dürfen und wann sie nicht mehr alle mögliche medizinische Hilfe bekommen? Oder, wie Streeck es selbst ausdrückt: Teure Therapien bei einer Hundertjährigen, etwa bei einer schweren Krebserkrankung, ständen seiner Meinung nach in keinem Verhältnis mehr. Da müsse man sich fragen, ob man „wirklich diese teuren Medikamente“ anwenden müsse. 

Als Beispiel dafür nannte Streeck die Erfahrungen mit seinem am Lungenkrebs erkranktem Vater: „Es wurde in den letzten Wochen, wo er gestorben ist, so viel Geld ausgegeben. Und es hat nichts gebracht. Es wurden die neuesten Therapien aufgefahren. Es hat nichts gebracht. Und er hat mehr dort ausgegeben als je in seinem ganzen Leben im Gesundheitswesen.“

Die von Streeck damit losgetretene Debatte hat zwei Ebenen. Die eine ist die ethische, die andere, die tatsächlich finanzielle. Neben aller Empörung über seinen Vorschlag wollen wir also als erstes einmal einen Blick auf die nackten Zahlen werfen. Was würde es dem Gesundheitssystem bringen, einen solchen Vorschlag umzusetzen?

So teuer ist das deutsche Gesundheitssystem

Im vergangenen Jahr gaben die Krankenkassen rund 327,4 Milliarden Euro aus. Der größte Kostenblock sind dabei stationäre Behandlungen mit 102,2 Milliarden Euro, gefolgt von Medikamenten mit 55,2 Milliarden Euro und ambulanten Behandlungen mit 50,3 Milliarden Euro. Die Kosten steigen dabei seit Jahren enorm. 2009 lagen sie mit 167,1 Milliarden Euro nur etwas mehr als halb so hoch. 

Für dieses Jahr wird eine Steigerung der Ausgaben um 5,9 Prozent auf 346,6 Milliarden Euro erwartet. Die Ausgaben der Krankenkassen übersteigen dabei die Einnahmen aus Beiträgen deutlich. Ohne den Gesundheitsfonds, einem Topf, der aus dem Bundeshaushalt gefüttert wird, hätten die Krankenkassen seit Jahren nicht genügend Geld. Dieses Jahr fließen von der Bundesregierung so 16,8 Milliarden Euro an die Kassen.

Darum steigen die Kosten so stark

Der Hauptgrund für die seit Jahren stark steigenden Kosten ist die Alterung der Gesellschaft. Weil ältere Menschen häufiger krank werden oder sich verletzen sowie auch anfälliger für schwere Erkrankungen und Verletzungen sind, steigen die gesellschaftlichen Kosten, je mehr Senioren es in einem Land gibt. Von 2011 bis 2024 ist etwa die Zahl der Über-60-Jährigen in Deutschland um 19 Prozent von 21,4 auf 25,5 Millionen Menschen angestiegen. In der Gruppe der 80- bis 100-Jährigen ging es sogar um 42 Prozent auf 6,0 Millionen Personen nach oben. 17.901 Menschen sind sogar älter als 100 Jahre. Entsprechend legen eben auch die Kosten für das Gesundheitssystem zu.

Die Alterung der Gesellschaft ist jedoch nicht der einzige Grund für die steigenden Kosten. Ein weiterer Grund ist das Paradoxon, dass in einem besseren Gesundheitssystem zwar mehr Menschen geheilt werden, die Behandlungskosten pro Patient jedoch auch steigen. Das liegt daran, dass gute Systeme wie das deutsche immer schwerwiegendere Krankheiten behandeln können. Neue Therapien sind jedoch meist auch teurer, da sie beispielsweise spezielle Geräte oder Medikamente erfordern. Dies sind im Endeffekt die Therapien, die Streeck in der Talkshow ansprach.

Der dritte Grund für die steigenden Kosten ist die hohe Ineffizienz unseres Gesundheitssystems. Die wiederum ist darin begründet, dass es bisher nur unzureichend digitalisiert ist. Die Unternehmensberatung McKinsey folgerte aus zwei Studien 2018 und 2023, dass sich mit simplen Mitteln hier schon mehr als 40 Milliarden Euro pro Jahr einsparen ließen.

So viel höher sind die Kosten für die Behandlung von Senioren

Die Ausgaben der Krankenkassen lassen sich nach Alter aufteilen. So verursachte jeder von uns nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2023 Kosten von rund 5900 Euro. Kreislauferkrankungen schlagen hier mit 780 Euro knapp vor psychischen Störungen mit 760 Euro am stärksten zu Buche.

Die Kosten steigen mit dem Alter aber deutlich an. Kinder unter 15 Jahren kosteten das Gesundheitssystem nur 2450 Euro im Schnitt. Menschen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 65 Jahren steigerten sich auf 3790 Euro. Ab dem Senioren-Alter geht es steil nach oben. Zwischen 65 und 85 Jahren lagen die durchschnittlichen Kosten schon bei 11.480 Euro, bei den Über-85-Jährigen waren es sogar 28.860 Euro.

So wenig Geld spart Streecks Vorschlag

In der Gruppe der 65- bis 85-Jährigen gibt es aktuell rund 16,1 Millionen Menschen. Bei den Über-85-Jährigen wären es 4,5 Millionen Personen. Über 100 Jahre alt sind wie gesagt gerade einmal 17.901 Personen.

Die Frage ist nun, welcher Altersgruppe will Streeck welche medizinischen Therapien versagen. Bleiben wir bei seinem Beispiel der 100-Jährigen und älteren Menschen. Es gibt keine Statistik darüber, wie hoch die Kosten der Krankenkassen für diese Altersgruppe sind, aber nehmen wir einmal hypothetisch an, sie lägen astronomisch hoch noch einmal bei dem Dreifachen der Gruppe aller Über-85-Jährigen. Das wären 86.580 Euro pro Jahr. Nun will Streeck diesen Menschen nicht alle Therapien versagen, aber selbst, wenn er das täte, lägen die Einsparungen für das Gesundheitssystem bei gerade einmal 15,5 Millionen Euro pro Jahr. Zur Einordnung: Das wären 0,004 Prozent der gesamten jährlichen Kosten.

Um wirklich Geld damit zu sparen, Senioren medizinische Behandlungen zu verbieten, müssten wir also viel weiter ausholen. Würden wir alle Krebstherapien für Menschen über 65 Jahren einstellen, wie Streeck es angesprochen hat, würde das bereits 32 Milliarden Euro einbringen. Erkrankungen des Kreislaufsystems wie Bluthochdruck oder Infarkte sind sogar noch teurer. Müssten sie bei Senioren nicht mehr behandelt werden, brächte das fast 58 Milliarden Euro pro Jahr ein. Zusammen wären das also 90 Milliarden Euro pro Jahr oder rund 26 Prozent aller Kosten.

Die ethische und rechtliche Dimension von Streecks Vorschlag

Das obige Rechenbeispiel zeigt, dass Streecks originaler Vorschlag, besonders teure Therapien etwa bei fortgeschrittenem Krebs einer Hundertjährigen nicht mehr zukommen zu lassen, auf die gesamten Kosten unseres Gesundheitssystems überhaupt keinen Einfluss hätte.

Neben dem zweifelhaften finanziellen Nutzen dieser Idee ist aber die ethische Dimension viel entscheidender. Was Streeck vorschlägt, ist nichts anderes, als Menschen mit bestimmten Erkrankungen und einem bestimmten Alter einfach sterben zu lassen – aber nur diejenigen, die sich die teuren Therapien nicht selbst leisten können. Reiche Privatversicherte müssten sich keine Sorgen machen. Was Streeck also implizit will, ist, arme Rentner loszuwerden.

Geht es darum, arme Rentner loszuwerden?

Dafür müsste der Staat festlegen, welche Therapien ab welchem Alter nicht mehr von der Krankenkasse bezahlt werden. Eine Verwaltung würde dann also festlegen, welches Leben noch erhaltenswert ist und welches nicht. Wird dies einmal angewandt, ist der Schritt dazu, die Zahl der nicht mehr erhaltenswerten Leben immer mehr auszuweiten, nur noch ein geringer. Es könnte also bei besonders teuren Krebstherapien für über 100-Jährige anfangen und bei Blutdruckmedikamenten für 50-Jährige enden.

Das stände auch in Konflikt mit der Berufsethik von Ärzten und dem Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Letzteres verbietet die Diskriminierung von Menschen wegen Alters auch bei Versicherungen. Krankenkassen dürften also einer Hundertjährigen nicht eine Therapie versagen, die sie einer 20-Jährigen zukommen lassen würden.

Leben erhalten, Gesundheit schützen

Für Ärzte gilt zudem die Berufsordnung der Bundesärztekammer, die 2024 in der neuesten Fassung beschlossen wurde. Dort heißt es bereits im Paragraf 1, dass es Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte sei, „Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen.“ Jemandem eine teure Therapie aufgrund seines Alters zu versagen, würde dem ebenso widersprechen wie Paragraf 2, der festlegt: „Insbesondere dürfen sie nicht das Interesse Dritter über das Wohl der Patientinnen und Patienten stellen.“ Damit sind auch die wirtschaftlichen Interessen von Krankenkassen gemeint.

Damit ist auch klar, dass Streecks Vorschlag so gut wie keine Chance hat, je beschlossen zu werden. Selbst wenn die Krankenkassen ihren Leistungskatalog entsprechend anpassen würden, wäre eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vorprogrammiert und der Katalog würde wegen Altersdiskriminierung sofort gekippt werden.