Vermisstenfall Pawlos: Kriminalistik-Professor erklärt seine „naheliegendste These“

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Die Polizei erweitert die Suche nach dem vermissten Pawlos deutlich. Kriminalistik-Experte Matzdorf spricht über Hypothesen zur Lösung des Falls.

Weilburg – Dieser Vermisstenfall bewegt ganz Deutschland. Und er wird nun immer größer, denn die Polizei weitet die Suchmaßnahmen nach Pawlos aus Weilburg in Hessen auf das gesamte Bundesgebiet aus. An Bahnhöfen, Flughäfen und Autobahnraststätten ist der vermisste Sechsjährige nun auf über 13.000 digitalen Informationstafeln in Deutschland zu sehen.

Am Dienstagnachmittag startete auf Bitten der hessischen Polizeibehörden vom Fliegerhorst Nörvenich aus ein für Luftaufklärung ausgerüsteter Eurofighter („Recce“), um hochauflösende Aufnahmen zu liefern. Und auch die Kollegen aus Bremervörde (Niedersachsen) wurden um Hinweise gebeten. Sie hatten vor einem Jahr im Vermisstenfall Arian ermittelt. Er war Autist, wie Pawlos einer ist. Leider wurde Arian Wochen später tot auf einem Feld aufgefunden.

Kriminalwissenschaftler Matzdorf rät im Vermisstenfall Pawlos auf Nuancen zu achten

Die Behörden in Hessen geben die Hoffnung nicht auf und greifen nach jedem Strohhalm, denn nach wie vor fehlt der entscheidende Hinweis auf den Jungen. Kriminalwissenschaftler Christian Matzdorf weist im Gespräch mit IPPEN.MEDIA auf mehrere Hypothesen hin, rät aus kriminalwissenschaftlicher Perspektive dazu, auf die Nuancen schauen, die sich unterscheiden, um dort Ansatzpunkte für die Aufklärung des Sachverhalts und bestenfalls für ein Auffinden des Jungen zu finden. Matzdorf mahnte bereits vor einem fatalen Irrtum, beim Vergleich der Fälle zwischen Pawlos und Arian.

Rät der Polizei im Vermisstenfall Pawlos auf die Nuancen zu achten: Christian Matzdorf war über 30 Jahre in der Landespolizei Berlin. Mittlerweile ist er Professor für Kriminalistik mit Schwerpunkt Kriminaltechnik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin). © Privat/Boris Roessler/dpa

„Autistische Kinder ‚funktionieren‘ anders. Sie orientieren sich stärker intuitiv und die Reize überlagern logische Strukturen oder es wird eine ‚eigene Logik‘ entwickelt. Daher ist die naheliegendste These: Das Kind hat sich verlaufen und irrt orientierungslos umher“, glaubt Matzdorf und fürchtet: Mit zunehmendem Zeitablauf steige auch die Gefahr für Gesundheit und Leben. Die niedrigen Temperaturen könnten das Kind in seinem Handeln einschränken oder letztlich handlungsunfähig machen, sofern es keinen sicheren Ort gefunden hat, so Matzdorf.

Der Wissenschaftler schließt auch ein Verbrechen nicht aus: „In Betracht gezogen werden muss zudem, dass ein Kind – insbesondere mit den bekannten Einschränkungen – alleine unterwegs, besonders vulnerabel ist. Hierdurch entstehen Tatgelegenheiten, insbesondere für spontan agierende Täterinnen oder Täter, die zum Nachteil des Kindes gereichen können.“ Das sieht Ex-Profiler Axel Petermann ähnlich. Auch er erklärte zuletzt bei IPPEN.MEDIA die Überlegungen der Polizei und nannte Theorien zum Vermisstenfall.

Vermisster Pawlos aus Weilburg (Hessen): Blackbox als Schlüssel zur Lösung des Falls?

Matzdorf war über 30 Jahre in der Landespolizei Berlin. Mittlerweile ist er Professor für Kriminalistik mit Schwerpunkt Kriminaltechnik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin). Seine dritte These gilt als Blackbox. Diese enthalte zahlreiche Umstände, die man aktuell nicht kennen oder abschließend beurteilen könne. „Daraus resultiert, dass Fragen nicht beantwortet bzw. zielführende Fragen gar nicht erst gestellt werden können. Dies gilt auch für die Bewertung von Hinweisen, die möglicherweise noch nicht in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können“, erklärt er. So könnte ein Aspekt, der sich als entscheidendes Puzzlestück herausstellen kann, derzeit noch als unbedeutend erscheinen. Das stelle die große Herausforderung an die Suche nach dem Jungen und die Ermittlungen dar, meint der Experte aus Berlin.

Was ist Autismus?

Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus beziehungsweise Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken.

Quelle: Bundesverband Autismus Deutschland e.V.

Matzdorf hofft auf „ergebnisoffene Ermittlungen im sozialen Nahbereich des Jungen“. Denn im familiären Umfeld und dem Freundes- und Bekanntenkreis sowie der Schule und möglichen Betreuungseinrichtungen könnten sich wichtige Hinweise auf das persönliche Verhalten des Jungen, seine individuellen Eigenschaften und Eigenarten finden lassen. „Zeigte er bereits früher ein ähnliches Verhalten oder gab es Hinweise auf ein bevorstehendes Szenario dieser Art und viele weitere Fragen“, würde sich die Polizei mit Sicherheit stellen, sagt Matzdorf.

Die neuen Maßnahmen der Polizei erscheinen sinnvoll. Auch Matzdorf befürchtet: „Der Junge könnte beispielsweise in eine Bahn gestiegen sein oder sich mit anderen Hilfsmitteln vom Ort entfernt haben, sodass möglicherweise weiter entfernte Bereiche in die Betrachtungen einbezogen werden müssen.“

Polizeisuche nach Pawlos ausgeweitet

Das macht die Polizei, indem sie die Suche auf das Bundesgebiet ausweitet. Bleibt die Hoffnung, dass sich dadurch endlich Hinweise finden, um die Ermittelnden in der neuen Phase auf die richtige Spur zu bringen. Denn bislang verliert sich diese kurz nach Pawlos‘ Weglaufen am Dienstag (25. März). Ein Passant sah ihn noch an dem kleinen Bahnhof nahe der Lahn, nur wenige hundert Meter von der Schule entfernt. Dort endet auch die von den Spürhunden aufgenommene Fährte. Später wurde Pawlos von einem anderen Passanten von einer viel befahrenen Straße geholt, wie ein Dashcam-Video zeigt (s. Video oben).

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