„Wir werden uns zurückziehen müssen“: Selenskyj zeigt sich besorgt über Ende von US-Hilfe
Ohne weitere US-Hilfen kann die Ukraine den Krieg nicht gewinnen. Der ukrainische Präsident gibt sich dennoch kampfbereit – und spricht sogar von einer neuen Gegenoffensive.
Kiew – Die US-Militärhilfen für Kiew hängen weiter im Kongress fest. Indes wird der ukrainische Luftverteidigungsschirm immer löchriger und der Mangel an Artilleriemunition macht sich an der Front bemerkbar. In einem Interview mit der Washington Post wird der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj deutlich: Ohne US-Hilfen werde man sich Schritt für Schritt zurückziehen müssen.
Munitionsmangel an der Front: Ohne US-Militärhilfen droht ukrainischer Rückzug
Für US-Politiker ist es eine Abstimmung im Kongress, für ukrainische Soldaten an der Front resultiert das Zögern in zu wenig Munition – und mehr Gefahr. „Wenn es keine US-Unterstützung gibt, bedeutet das, dass wir keine Luftverteidigung haben, keine Patriot-Raketen, keine Störsender für die elektronische Kriegsführung, keine 155-Millimeter-Artilleriegeschosse“, sagte Selenskyj der Washington Post in einem am Freitag veröffentlichten Interview. „Das bedeutet, dass wir zurückgehen werden, uns zurückziehen, Schritt für Schritt, in kleinen Schritten.“
Wir versuchen, einen Weg zu finden, uns nicht zurückzuziehen.
Eine konkrete Folge des Munitionsmangels: „Wenn man 8.000 Schuss pro Tag braucht, um die Frontlinie zu verteidigen, aber nur 2.000 Schuss zur Verfügung hat, muss man weniger tun“, so der ukrainische Präsident weiter. Das ginge, indem man sich zurückziehe. „Man muss die Frontlinie kürzer machen.“ Denn wenn es einen Durchbruch gäbe, könnte Russland in die großen Städte vorrücken. Selenskyj zeigte sich dennoch weiterhin kampfbereit: „Wir versuchen, einen Weg zu finden, uns nicht zurückzuziehen.“
Vorausgesetzt die Front bleibe stabil, denkt der ukrainische Präsident sogar an eine neue Gegenoffensive in diesem Jahr. Das sei nötig, denn wenn die Ukraine keine Schritte für eine Gegenoffensive unternähme, „wird Russland es tun.“ Einer Analyse der US-Kriegsexperten des Institute for the Study of War zufolge gelingt es der Kiews Truppen derzeit, russische Streitkräfte daran zu hindern, taktische Fortschritte entlang der Front zu erzielen. Doch die anhaltenden Verzögerungen bei der US-Militärhilfe würden „die Gefahr eines operativen Erfolgs Russlands erhöhen, [...]“ und das möglicherweise exponentiell, so die Experten.
Ukraines Kampf in der Tiefe: Atacms-Raketen als Antwort auf russische Angriffe von der Krim
Selenskyj forderte dringend mehr Langstreckenraketen des Typs Atacms. Diese könnten aus Sicht des Präsidenten Ziele auf der von Russland völkerrechtswidrig besetzten Halbinsel Krim treffen. Insbesondere Flugplätze, von denen Kampfjets starten, die in der Ukraine schwere Schäden anrichteten. „Wenn Russland weiß, dass wir diese Jets zerstören können, werden sie nicht von der Krim aus angreifen. Es ist wie mit der Seeflotte. Wir haben sie aus unseren Hoheitsgewässern vertrieben. Jetzt werden wir sie von den Flughäfen auf der Krim verdrängen“, so der ukrainische Präsident.
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Zuvor hatte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba mehr Patriot-Luftabwehrsysteme gefordert. In der vergangenen Woche hatte es zudem Insiderberichte gegeben, dass die USA der Ukraine bei Drohnenangriffen auf Öldepots im russischen Hinterland Einhalt gebieten wollten. Dies bestätigte Selenskyj im Interview indirekt. „Die Reaktion der USA darauf war nicht positiv“, sagte der Präsident der Washington Post, ergänzte aber: „Wir haben unsere Drohnen eingesetzt. Niemand kann uns sagen, dass wir das nicht dürfen.“
Zukunft der Ukraine hängt vom US-Kongress ab: „Keine Zeit verschwenden“
Mit Blick auf die Zukunft sagte Selenskyj, dass die Möglichkeiten der Ukraine davon abhingen, was der US-Kongress beschließe. Solange das nicht feststünde, „werden wir im Osten bleiben, wo wir jetzt sind.“ Man habe bereits ein halbes Jahr verloren, so der ukrainische Präsident. „Wir können keine Zeit mehr verschwenden. Die Ukraine darf kein Politikum zwischen den Parteien sein.“ Republikaner hatten zuletzt die Militärhilfen an Kiew verzögert. Nach der Osterpause Anfang April soll das Thema im US-Kongress wieder aufgenommen werden.
Die Debatte gilt manchen als möglicher Vorbote für das Verhältnis zwischen Kiew und Washington im Falle einer Wiederwahl des früheren US-Präsidenten Donald Trump. Der Republikaner zeigte in der Vergangenheit eine Nähe zum russischen Präsident Wladimir Putin und gab unlängst an, dem Kremlchef mehr zu vertrauen als den US-Geheimdiensten. Trump hatte außerdem behauptet, den Ukraine-Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden zu können. Doch auch im Falle einer zweiten Amtszeit des Republikaners gab sich Mikhailo Podolyak, der Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, optimistisch, dass die USA ihre Militärhilfe fortsetzen würden.
Dafür sprächen einerseits wirtschaftliche Gründe: „Der amerikanische militärisch-industrielle Komplex ist unter anderem ein wichtiger Geldgeber für die politischen Parteien Amerikas, und Verkäufe bedeuten Arbeitsplätze und Gewinne“, so der Berater im Interview mit Politico. Wenn alles andere scheitere, setzt Podolyak auf die Kommunikationsgabe Selenskyjs, um Trump für sich zu gewinnen. Der ukrainische Präsident „ist in der Lage, die Emotionen und Gedanken von Politikern in verschiedenen Ländern zu erfassen, und er ist gut darin, genau die Argumente zu identifizieren, die sie beeinflussen werden“, so der Präsidentenberater.