Warum starb Lorenz A.? Tödliche Schüsse in Oldenburg lenken Blick auf strukturelle Probleme bei der Polizei

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Die Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“ bei der Kundgebung nach tödlichen Polizeischüssen in Oldenburg. Auf der Bühne stehen Verwandte und Freunde des getöteten Lorenz. Sie fordern eine lückenlose Aufklärung der fatalen Nacht. © Izabela Mittwollen/dpa

Der tödliche Polizei-Einsatz in Oldenburg wirft noch immer viele Fragen auf. War der Schusswaffengebrauch gerechtfertigt? Wie wahrscheinlich ist ein mögliches rassistisches Motiv?

Oldenburg/Hamburg – Die Nacht zu Ostersonntag hat in Oldenburg alles verändert. Ein 21-Jähriger wurde erschossen. Drei Kugeln trafen Lorenz A. in den Oberkörper, die Hüfte – und den Kopf. Ein viertes Geschoss streift seinen Oberschenkel. Insgesamt fünf Schüsse, abgegeben von einem 27-jährigen Polizisten. Lorenz A. stirbt noch in der Nacht im Krankenhaus an seinen Verletzungen.

Wie kam es zu diesem schwerwiegenden Vorfall? Gegen den Polizisten wird seither ermittelt. Der Grund: Verdacht auf Totschlag. Doch es steht noch ein weiterer Vorwurf im Raum, der in der aktuellen Debatte emotional diskutiert wird: Liegt in dem Fall auch ein rassistisches Motiv vor? Denn Lorenz A. ist schwarz.

Tötung von Lorenz A. durch einen Polizisten – unverhältnismäßige Gewalt oder sogar Rassismus?

Viele, die diese Vermutung teilen, sehen sich vor allem darin bestätigt, dass die Kugeln Lorenz A. in die Körperrückseite trafen. „Wer vier Schüsse von hinten abgibt, will nicht stoppen – sondern töten“, ist ein Satz, der auf vielen Protestbannern steht und in den sozialen Netzwerken kursiert. Noch immer ist nämlich unklar: Befand sich der Polizist in einer Notsituation, was den Einsatz der Schusswaffe unter Umständen rechtfertigen würde? Oder wurde Lorenz A. Opfer von unverhältnismäßiger Polizeigewalt? Möglicherweise, weil er schwarz war?

Diese Fragen bleiben auch jetzt – nach der Beisetzung von Lorenz A. – und sorgen nicht nur bei der Schwarzen Community für Wut. „Gerechtigkeit für Lorenz“ fordern die Teilnehmenden an den zahlreichen Kundgebungen für den Getöteten, allen voran die gleichnamige Initiative. Im niedersächsischen Innenministerium pocht man ebenfalls darauf – in diesem konkreten Fall auf die Unschuldsvermutung für den seit dem Vorfall dienstunfähigen Polizisten. Solange, bis vollständig aufgeklärt wurde, was in besagter Nacht in Oldenburg geschah.

Man verstehe zwar die emotionale Betroffenheit, pauschale Rassismusvorwürfe gegen die Polizei als Institution weist der Landespolizeipräsident Axel Brockmann aber entschieden von sich. So steht es im Protokoll einer Ausschusssitzung, das dieser Redaktion vorliegt. Vielmehr sei anzunehmen, dass der Polizist, der die Schüsse abfeuerte, in einer „Hochstresssituation“ gewesen sei – „es gibt einige Indizien, die dafürsprechen“, so Brockmann im Ausschuss.

„Als letztes Mittel“ – Der Gebrauch der Schusswaffe in Niedersachsen ist streng geregelt

Warum der junge Polizist zur Waffe griff und Lorenz A. erschoss – derzeit noch Gegenstand der Ermittlungen. Der Gebrauch der Schusswaffe ist im Niedersächsischen Polizeigesetz streng geregelt und „gilt ausdrücklich als Ultima Ratio, also als letztes Mittel“, wie der Polizeipräsident im Ausschuss betonte. Erlaubt ist er nur in wenigen Fällen, unter anderem zur Abwehr von Gefahr für Leib und Leben, um ein Verbrechen zu verhindern, wenn eine Person Schusswaffen oder Explosivmittel mit sich führt oder wenn eine Person eines Verbrechens verdächtigt wird und sich der Festnahme oder Identitätsfeststellung entziehen will, erklärt ein Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums auf Anfrage von kreiszeitung.de.

Ob in der Nacht zu Ostersonntag etwas davon zutrifft, ist noch unklar. Lorenz A. soll Reizgas versprüht und ein Messer bei sich getragen haben. Ob er den Polizisten damit drohte, ist noch nicht bekannt. Die Staatsanwaltschaft sieht aktuell keine Anhaltspunkte für diese Annahme. Doch dem gegenüber stehen ebenso ungeklärte Fragen wie: Aus welchem Abstand wurden die Schüsse abgefeuert? Warum waren die Bodycams der Polizisten bei dem Einsatz nicht eingeschaltet? Und vor allem: Warum trafen die Geschosse den Getöteten von hinten?

Lückenlose Aufklärung der tödlichen Nacht in Oldenburg gefordert

Die Aufklärung wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Polizei Delmenhorst führt die Ermittlungen in dem Fall, geleitet von der Staatsanwaltschaft Oldenburg. „Eine ausreichende Objektivität und Neutralität in der Ermittlungsführung ist bereits deshalb gewährleistet“, erklärt der Ministeriumssprecher.

Zum laufenden Ermittlungsverfahren äußert sich die Staatsanwaltschaft nicht. Doch die Fragen bleiben. Nicht nur im Hinblick auf die möglicherweise unverhältnismäßige Gewaltanwendung, sondern auch auf Rassismus bei der Polizei.

Eine, die zu letzterem Thema forscht, ist die Wissenschaftlerin Amelie Nickel. Sie ist Teil des Forschungsteams einer Studie zu „DemokratiebezogenenEinstellungen und Werthaltungen innerhalb der Polizei Hamburg“ (DeWePol), einer Kooperation der Akademie der Polizei Hamburg und der Polizeiakademie Niedersachsen.

„Kaum zu bestreiten“ – Wissenschaftlerin sieht Rassismus bei der Polizei als Problem

„Wie groß das Problem von Rassismus und Diskriminierung in der Polizei ist, lässt sich für Deutschland schwer sagen, da es immer noch an verlässlichen Zahlen mangelt. Das ist Teil des Problems. Dass es aber ein Problem gibt, ist mittlerweile kaum zu bestreiten“, sagt sie im Gespräch mit kreiszeitung.de. Wichtige Arbeit leisteten hier vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen, oft aus der jeweiligen Community, die Fälle von Rassismus und Diskriminierung durch die Polizei dokumentieren.

Zur Person

Amelie Nickel ist Soziologin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule in der Akademie der Polizei Hamburg. Sie arbeitet aktuell am Forschungsprojekt „RaDiPol – Rassismus und Diskriminierungserfahrungen im Polizeikontakt“, einer Kooperation mit der Uni Frankfurt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird.

Die von Nickel durchgeführte DeWePol-Studie ergab, dass sich 18 Prozent der befragten Polizisten, also beinahe jeder vierte, politisch als „rechts der Mitte“ einordnen. 45 Prozent der Studienteilnehmer zeigten außerdem eine Abwertung von asylsuchenden Menschen. 20 Prozent lehnten demnach Sinti und Roma ab und fast 34 Prozent zeigten sich anfällig für populistische Ideen.

Dennoch, so die Meinung Nickels, sei nicht jeder Polizist, dem rassistisches Handeln vorgeworfen wird, auch ein „überzeugter“ Rassist – zumindest nicht unbedingt. „Es gibt hier strukturelle Bedingungen in der Polizei und in polizeilichen Routinen, die Rassismus produzieren, der auch ganz unabhängig von den individuellen Einstellungen der Polizisten ‚funktioniert‘. Man spricht hier von institutionellem oder strukturellem Rassismus in der Polizei“, erklärt sie.

Studie ergab Ablehnung bestimmter Gruppen und populistisches Gedankengut innerhalb der Polizei

Das sei zum Beispiel der Fall, wenn Polizeibeamte Personen auf der Grundlage zugeschriebener kultureller oder ethnischer Merkmale systematisch häufiger kontrollieren. Dies wirke diskriminierend, „völlig unabhängig davon, ob einzelne Polizistinnen oder Polizisten rassistisch sind.“

Um zu verstehen, wie es zu solchen verfälschten Annahmen kommt, müsse man berücksichtigen, dass Personenkontrollen oft an „kriminalitätsbelasteten Orten“ durchgeführt würden, erklärt Nickel. „An solchen Orten halten sich allerdings zwangsweise besonders häufig die Personen auf, die aufgrund institutioneller Diskriminierung am Wohn- und Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Was zu einer übermäßigen polizeilichen Kontrolle ebendieser Personen führt und sich wiederum dann als polizeiliches Erfahrungswissen in der Institution Polizei festschreibt“, stellt die Soziologin klar.

Was ist über den Fall Lorenz A. bekannt?

Fest steht laut Staatsanwaltschaft: Ein 27-jähriger Polizeibeamter schoss in der Nacht zu Ostersonntag fünfmal in Richtung des jungen Deutschen. Drei Kugeln treffen den 21-Jährigen von hinten in Oberkörper, Hüfte und Kopf, eine weitere streift möglicherweise seinen Oberschenkel. Lorenz A. stirbt im Krankenhaus.

Unklar ist bislang, warum der Polizist in der Oldenburger Fußgängerzone von hinten auf Lorenz schoss. Der 27-jährige Polizist, der schoss, ist derzeit nicht im Dienst. Gegen ihn wird wegen Totschlags ermittelt. Für den Einsatz der Schusswaffe gibt es klare gesetzliche Vorgaben. Sie dürfen in einer Notwehr- oder Nothilfesituation gebraucht werden.

Das Ermittlungsverfahren wird von der Staatsanwaltschaft Oldenburg geführt, die benachbarte Polizei Delmenhorst ermittelt. Daran gibt es Kritik, genau wie an der Tatsache, dass die Polizeibeamten bei dem Einsatz ihre Bodycams nicht eingeschaltet hatten.

Erschwert werden die Ermittlungen dadurch, dass zwei Polizisten und Lorenz am Tatort waren, als die tödlichen Schüsse fielen. Ob es weitere Zeugen gibt, ist bislang unklar. Die Staatsanwaltschaft bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Die Ermittler werten derweil Videoaufnahmen aus – zum Beispiel von der Kamera eines Geschäftes in der Fußgängerzone. Zudem soll es mindestens eine Audioaufnahme geben.

(Quelle: Deutsche Presseagentur; Stand: 21. Mai 2025)

Um diesen Strukturen und Handlungsroutinen, die für Betroffene schwere psychosoziale Folgen haben können, entgegenzuwirken, gebe es verschiedene Bausteine, darunter unabhängige Polizeibeauftragte, Gerichte oder auch parlamentarische Fach- und Untersuchungsausschüsse, die als Kontrollinstanz dienen – sogenannte „Accountability-Foren“. Aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen, unabhängige Forschung sowie die mediale Berichterstattung seien laut Amelie Nickel wichtig.

„Cop Culture“ und eine „Mauer des Schweigens“ – wissenschaftliche Erkenntnisse zur Polizei

Zu der Frage, welche Faktoren eine Aufklärung schwerwiegender Taten von Polizisten durch die Institution Polizei selbst möglicherweise hemmen, gibt es ebenfalls Forschung. In diesem Zusammenhang werde auch von der sog. „Cop-Culture“ gesprochen, die zu einer „Mauer des Schweigens“ führen könne, so Nickel. Damit sei gemeint, dass es gerade unter Polizisten, „die sich in Einsatzinstitutionen in besonderem Maße aufeinander verlassen müssen, eine hohe Loyalität gibt, die auch eingefordert wird. Diese Loyalität und Kollegialität untereinander ist notwendiger Bestandteil polizeilicher Arbeit und bedeutet im positiven Sinne auch eine hohe Teamfähigkeit und Solidarität.“

Allerdings komme es durch diese Loyalität zu Konflikten, wenn es darum gehe, Fehlverhalten von Kollegen zu melden. Dazu seien Polizisten zwar dienstlich durch das Legalitätsprinzip verpflichtet – doch eben dieses Spannungsverhältnis führe in der Praxis oft dazu, dass Polizisten rassistisch motivierte Handlungen ihrer Kollegen nicht melden, obwohl sie dies beobachtet haben.

Wissenschaftlerin befürwortet unabhängige Stellen zur Aufklärung von Polizeigewalt

Besonders häufig seien muslimisch und oder arabisch wahrgenommene Menschen, schwarze Menschen, asylsuchende Personen, Sinti und Roma sowie Personen mit psychischen oder Suchterkrankungen, Menschen mit Behinderung sowie obdachlose Menschen betroffen, weiß die Forscherin. Für die Betroffenen habe das oft massive psychosoziale Folgen, vor allem, weil es häufig keine einmaligen, sondern wiederholte Erfahrungen seien.

Deshalb sei die rechtsstaatliche Aufarbeitung von mutmaßlich rassistisch motivierten Taten von zentraler Bedeutung, so Nickel. „Und zwar unter der Voraussetzung, dass allen betroffenen Personen, unabhängig von Aufenthaltsstatus, finanzieller oder sozialer Position, tatsächlich die Möglichkeit gegeben wird, ihr Recht vor Gericht einzufordern.“ Dafür müsse aus ihrer Sicht gewährleistet sein, dass nicht Polizisten gegen Polizisten ermittelten, sondern unabhängige Experten und Stellen vorhanden sind, die zudem ausreichend bekannt, fachkompetent und personell ausgestattet sein müssen.

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