Analyse von Ulrich Reitz - Putins Krieg wird jetzt zur Kernfrage einer deutschen Personalentscheidung

Diese besondere Pro-Ukraine-Koalition wird man jetzt in Varianten bis zum Wahltag erleben können. Ebenso wie ihr Gegenstück. Union, Grüne und FDP wollen Mittelstreckenraketen liefern, sie lassen sich dabei auch von russischen Atomschlags-Drohungen nicht beeinflussen. 

Anders das informelle Bündnis aus „Besonnenen“ mit den Russland-affinen: SPD, BSW und AfD. Olaf Scholz begründet seine Weigerung, deutsche Taurus-Mittelstreckenraketen in die Ukraine zu liefern, inzwischen mit denselben Sach-Argumenten wie Sahra Wagenknecht.

Die Stimmung im Westen neigt sich längst zuungunsten der Ukraine

Was an der Front los ist und wie die Chancen in der Ukraine zwischen Täter und Opfer verteilt sind, darüber gibt es kein glasklares Bild. Die Russen sind in der Offensive, sie schaffen es offensichtlich, im Donbas „Dorf für Dorf“ zu erobern, sagt der Ex-Bundeswehr-General Egon Ramms. 

Sie fliegen die brutalsten Angriffe auf die Zivilbevölkerung, was ein eindeutiger Bruch des Kriegs-Völkerrechts ist, aber: inzwischen auch hierzulande mehr oder weniger achselzuckend von der Bevölkerung zur Kenntnis genommen wird. 

Wladimir Putin setzt seit 1000 Tagen darauf, dass die Stimmung im pazifistischen Westen eher kippt als in seinem autoritären Land, in dem der Nationalismus in dessen imperialistischer, nach außen gerichteter Variante ebenso zuhause ist wie die Bereitschaft zur Anwendung tödlicher Gewalt. Die Stimmung im Westen neigt sich längst zuungunsten der Ukraine, in Deutschland ist die Unterstützung um zehn Prozent gesunken. Und militärisch?  

Masala spricht von einem „Skandal der westlichen Welt“

Die „Front in der Ukraine droht zusammenzubrechen“, sagt der langjährige CDU-Verteidigungsexperte Johann Wadephul. Ein „großer russischer Durchbruch“ stehe bevor. Das sagen auch die meisten Militärexperten. Deren Ton wird angesichts der Lage an der Front immer verzweifelter. 

„Wenn ich ein Theologe wäre, würde ich sagen: Wir haben schwere Schuld auf uns geladen“, sagt Carlo Masala. Die Ukraine immer erst „kurz vor dem Kollaps“ zu unterstützen, sei ein „Skandal der westlichen Welt“. Aber selbst, wenn man dieser Meinung ist: Was ändert ein Skandal, der öffentlich nicht als solcher wahrgenommen wird?

Vom ersten Tag an war die deutsche Politik, damals sogar parteiübergreifend, nicht bereit, in der Ukraine „all in“ zu gehen. Die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine wäre die erste Gelegenheit des Westens gewesen, den Russen schon unmittelbar nach Kriegsbeginn entschlossen entgegenzutreten.

Weder war Berlin dazu bereit noch Washington. Wer heute Vorwürfe gegen Bundeskanzler Olaf Scholz erhebt wie etwa Friedrich Merz, sollte nicht vergessen, dass die Rechnung, die etwa Masala aufmacht, genauso an den amerikanischen Präsidenten wie den deutschen Bundeskanzler geht.

Biden und Scholz haben bis heute keine Strategie in diesem Krieg

Die Unentschiedenheit des amtierenden Präsidenten Joe Biden wurde ein Teil des Wahlerfolgs von Donald Trump. Der US-Demokrat sei stets vor Diktatoren zurückgewichen, Trump in seiner ersten Amtszeit nie. Trump machte – mit Erfolg – aus einer Strategie eine Männlichkeitsfrage, einen Virilitätstest. Der tattrige Biden verlor. 

Bis heute hat die – wegen des Volumens der Hilfslieferungen – entscheidende amerikanische Regierung keine Strategie in diesem Krieg Putins gegen die Ukraine. Ebenso wenig wie Olaf Scholz. 

Womit Grüne und FDP von Anfang an gehadert haben – seit zwei Jahren greifen ihre beiden lautesten Repräsentanten Toni Hofreiter und Marie-Agnes Strack-Zimmermann den führungs-unwilligen Kanzler persönlich an. 

Dieses rhetorische Muster hat sich mit dem Führungswechsel bei den Grünen auch nicht geändert. Die neue Parteivorsitzende Franziska Brantner sortiert die zwischen Olaf Scholz und Boris Pistorius ungeklärte Kanzlerkandidatenfrage ein als ungeklärte Richtungsfrage: „Wo steht die SPD?“ Scholz und Pistorius stünden „an anderen Stellen“.

Von Pistorius nimmt man allgemein an, der sei für die Taurus-Lieferung

Wobei der Bundesverteidigungsminister vorsichtig ist. Scholz ist schließlich sein Chef im Bundeskabinett – in einer geostrategisch wichtigen Frage öffentlich anderer Meinung zu sein, kann auch zur politischen Überlebensfrage werden. 

Von Pistorius nimmt man allgemein an, der sei für die Taurus-Lieferung an die Ukraine und ebenso dafür, dem bedrängten Land zu erlauben, mit deutschen Waffen auf strategische Ziele in Russland zu schießen. Ein klares öffentliches Bekenntnis von Pistorius dazu gibt es nicht. 

Pistorius verfügt auch über keinerlei belastungsfähige Netzwerke in seiner Partei, und auch in der Bundestagsfraktion wird er misstrauisch beäugt. Fraktionschef Mützenich konnte den Minister gefahrlos schurigeln, als der kraftstrotzend mahnte, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden. 

Zu Vorsicht von Pistorius gehört es, die wahrscheinliche eigene Meinung hinter unverdächtigem Personallob zu verstecken. So freute sich Pistorius öffentlich auf die neue Brüsseler Kommissarin für Außen- und Sicherheitspolitik, Kaja Kallas, die frühere estnische Premierministerin. Eine führende Vertreterin des antirussischen Falke-Lagers.

Die Signale aus dem Trump-Team sind nicht nur unterschiedlich, sondern sogar gegensätzlich

Und auch über den neuen Verteidigungskommissar Andrius Kubiliuz, der aus Litauen kommt. Litauen und Esten haben vom ersten Tag an der Ukraine mehr Waffen geliefert als Deutschland, gemessen am Sozialprodukt pro Kopf. Und sie sind traditionell antirussisch, weil sie die Russen als üble, genozidale Besatzer in Jahrzehnten kennengelernt haben. In Jahrzehnten, in denen die Sozialdemokraten auf teils unkritischem Verständigungskurs mit Russland waren. 

Tatsächlich wartet in Berlin gerade alles auf den Amtsantritt von Donald Trump am 20. Januar. Bis dahin hat die Stunde der Kaffeesatzleser geschlagen, die Trumps Russland- und Ukrainekurs zu entschlüsseln versuchen. Was nicht so einfach ist, weil die Signale aus dem Trump-Team nicht einmal nur unterschiedlich sind, sondern sogar gegensätzlich. 

Als Biden Wolodymyr Selenskyj erlaubte, mit US-Waffen Ziele in Russland anzugreifen, vorläufig in der Region Kursk, da griff Trumps Sohn Donald Jr. den militärindustriellen Komplex als „Schwachköpfe“ an. An seiner Seite: Richard Grenell, Trumps Ex-Botschafter in Deutschland. 

Dagegen stellte sich Trumps neuer Sicherheitsberater Mike Waltz an die Seite von Biden. Der Ukraine müssten „die Handschellen“ gelöst werden. Das entspricht jedenfalls der Philosophie Trumps, den Ukraine-Krieg aus einer Position der Stärke zu lösen.

„Alles“ wird ohnehin in Washington entschieden

Aber selbst wenn Pistorius dieser Linie zuneigt – damit würde er sich umso mehr von seiner SPD entfernen. Lars Klingbeil und die Seinen stehen nicht nur personell, sondern auch konzeptionell auf der Seite von Scholz. Darauf haben sie den Wahlkampf als „Friedenspartei“ aufgebaut, mit der Botschaft: Alles kann bleiben, wie es ist. 

Wird es aber nicht. Das aber, der Wandel, liegt kaum in der Hand der Deutschen, Sahra Wagenknecht mag noch so sehr die Gefahr einer „Kriegserklärung“ der Deutschen an die Russen beschwören. Denn wie hat es CSU-Chef Markus Söder formuliert: 

„Alles“ werde ohnehin in Washington entschieden. Neben ihm saß der SPD-Chef Klingbeil. Und hat nicht widersprochen.