Immer mehr Menschen bekommen Bürgergeld: „Das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen“

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Die Debatte um das Bürgergeld hält an, die FDP will Ukrainer aus der Grundsicherung herausnehmen. Doch aus Sicht eines Experten wäre das ein Fehler - und könnte die Lage auf dem Arbeitsmarkt verschärfen.

Berlin - Die Wirtschaftsflaute in Deutschland kommt langsam auch auf dem Arbeitsmarkt an, trotz Fachkräftemangel steigen die Arbeitslosenzahlen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit ist die Zahl der Bürgergeld-Bezieher im Februar 2024 auf den höchsten Stand seit Mai 2020 gestiegen. Damals war es die Corona-Pandemie, die die Zahlen nach oben schnellen ließen. Seit 2022 sind es unter anderem die vielen Ukrainer und Ukrainerinnen, die in Deutschland Bürgergeld bekommen.

Bürgergeld-Debatte: FDP und CDU wollen Kürzungen für Ukrainer

Entsprechend ist der Vorstoß aus Kreisen von FDP und Union, neu ankommende Flüchtlinge aus der Ukraine nicht mehr direkt Bürgergeld beziehen zu lassen, vielleicht naheliegend. Doch aus Sicht des Arbeitsmarktforschers Enzo Weber, vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, würde das das Problem überhaupt nicht beheben. „Grundsätzlich können alle bedürftigen Geflüchteten Bürgergeld beziehen – aber erst, wenn der Asylantrag positiv beschieden ist. Bei den Geflüchteten aus der Ukraine hatte man sich entschieden, diese Zeit zu sparen. Das jetzt rückgängig zu machen, wäre eine unnötige Zeitverzögerung“, erklärt er im Gespräch mit IPPEN.MEDIA.

Ein Mann auf dem Weg zum Arbeitsamt: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist unterdurchschnittlich stark gestiegen.
Ein Mann auf dem Weg zum Arbeitsamt: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist wieder gestiegen. © Sebastian Kahnert / dpa

Was Weber damit meint: Wenn Ukrainer künftig nicht mehr direkt Bürgergeld beziehen dürfen, dann müssen sie erstmal einen Asylantrag stellen und drei Monate warten, bis sie eine Arbeit aufnehmen dürfen. Dann erhalten sie Asylleistungen, die zwar monatlich etwas geringer ausfallen als Bürgergeld; doch sie bekommen dann auch keine Unterstützung vom Jobcenter bei der Suche nach Beschäftigung und nach Integrationskursen. Diese Ukrainer und Ukrainerinnen würden also mutmaßlich eher noch länger brauchen bei der Arbeitssuche, statt dass es den Arbeitsanreiz nach dem Willen von FDP und Union erhöhen würde. „Zeitverzögerungen hatten wir bei den Ukrainern jetzt genug“, so Weber. „Ich würde also nicht dazu raten, sie jetzt aus dem Bürgergeld zu nehmen. Zumal sich bei den Arbeitsaufnahmen von Ukrainern zuletzt schon eine Verbesserung abgezeichnet hat“.

Immer mehr Menschen bekommen Bürgergeld - neues Hoch erreicht

Die Zahl der Bürgergeld-Empfänger beträgt aktuell rund 5,5 Millionen Menschen. Das geht aus Daten der Bundesagentur für Arbeit hervor, das regelmäßig die Zahl der Leistungsempfänger erfasst und veröffentlicht. Demnach sind aktuell vier Millionen Menschen erwerbsfähig, können also einer Arbeit nachgehen, während 1,5 Millionen Bezieher und Bezieherinnen nicht erwerbsfähig sind, also aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, zu arbeiten.

Die Zahl der Arbeitslosen steigt seit Jahresbeginn wieder und befand sich im Februar auf dem höchsten Niveau seit Mai 2020. Seit Sommer 2022, also auch seit Beginn des Ukraine-Kriegs und dem Zustrom an Geflüchteten aus dem Land, ist die Zahl der Bürgergeld-Empfänger auch deutlich angesprungen. Im Februar 2024 waren von den rund vier Millionen Empfängern etwa 500.000 von ihnen ukrainische Staatsangehörige.

Aus Sicht von Arbeitsmarktforscher Weber sollten die Alarmsignale anhand dieser Arbeitsmarktzahlen schon anfangen zu klingeln. „Die Jobaufnahmen sind gerade niedrig, nicht nur bei Ukrainern. Das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen“, so Enzo Weber. „Aber das bedeutet, dass wir gerade mehr in die Grundsicherung investieren müssen, nicht weniger. Wir brauchen mehr Qualifizierung, mehr Betreuung, damit die Menschen in Arbeit gebracht werden können“.

Diese Einschätzung teilt auch der Ökonom Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Er nennt den FDP-Vorschlag deshalb auch „blanken Populismus“. „Niemandem wird es besser gehen, niemand wird auch nur ein Euro mehr haben, wenn Deutschland Geflüchtete schlechter behandelt und ihnen Leistungen kürzt“, sagte der Präsident des DIW dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).  „Der deutsche Staat muss nicht weniger Geld für Geflüchtete ausgeben, sondern mehr Anstrengungen für eine schnellere und bessere Integration von Geflüchteten in Arbeitsmarkt und Gesellschaft unternehmen“, forderte Fratzscher. Dies sei eine auch riesige wirtschaftliche Chance, da sich das Arbeitskräfteproblem hierzulande in den kommenden Jahren massiv verschärfen werde.

Neben der Wirtschaftsflaute und der personellen Überlastung der Jobcenter liegen die langsameren Jobaufnahmen laut Enzo Weber teilweise auch an den Erleichterungen der Bürgergeld-Reform selbst. „Im Bürgergeld ist der Druck schwächer geworden, eine Arbeit aufzunehmen“, so seine Einschätzung. Die Idee der Reform sei, stärker auf Qualifizierung und berufliche Entwicklung zu setzen. Neben einer hinreichenden Verbindlichkeit sei es daher entscheidend, die Möglichkeiten dafür intensiv zu nutzen. (mit dpa)

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