Putin fährt „typisch russische“ Strategie: Ukrainischer Experte erklärt Plan hinter den Luftschlägen
Städte wie Charkiw und Odessa sind laufend Ziel russischer Luftschläge. Dabei geht es nicht nur um Landgewinne, erläutert ein Experte IPPEN.MEDIA.
Kiew – Auch die letzten Tage des April haben Nachrichten über neue Verheerungen in der Ukraine mit sich gebracht: In der Hafenstadt Odessa ist nicht nur ein schlossartiges Verwaltungsgebäude zerstört – schlimmer ist, dass Berichten zufolge erneut mehrere Zivilisten bei russischen Luftschlägen am Montag (29. April) ums Leben kamen. Die zweitgrößte Stadt des Landes, das frontnahe Charkiw, ächzt im Ukraine-Krieg ohnehin seit langem unter Beschuss. Neuerliche russische Angriffe beschädigten dort offenbar auch wieder Wohngebäude.
Der ukrainische Politikwissenschaftler Mykola Bielieskow sieht eine „typisch russische“ Doppelstrategie hinter dem Vorgehen des russischen Militärs. Er warnte im Gespräch mit IPPEN.MEDIA am Dienstag zugleich: Dass die Frontlinien lange Zeit weitgehend stabil blieben, sei ein „Wunder“.
Putins Armee greift Charkiw und Odessa aus der Luft an: „Russland will Städte entvölkern“
Bielieskow nannte – neben Angriffen auf militärische Ziele – zwei tiefergehende Bestrebungen hinter Russlands Bombardements. „Was Schläge auf Charkiw, Chmelnyzkyj und andere Frontstädte angeht, ist die russische Strategie simpel: Sie wollen so viele Menschen wie möglich verschrecken – um diese Städte so weit wie möglich zu entvölkern“, urteilte der Wissenschaftler des Nationalen Instituts für Strategische Studien in Kiew.
Das könne Putins Armee dem nächsten offensiven Vorrücken näher bringen. Odessa, fügte der Experte hinzu, sei dabei aufgrund der Nähe zur Halbinsel Krim auch als Teil der Front zu begreifen.
Zugleich verfolge Russlands Militär eine „Langfrist-Strategie“: Moskau wolle die Ukraine „außer Funktion“ setzen, für Zivilisten „unbewohnbar“ machen. Dazu greife das Militär insbesondere zivile Infrastruktur an. „Deshalb ist es eine typisch russische Art der Kriegsführung“, erklärte Bielieskow. Tatsächlich hat Russlands Armee auch bei vorangegangenen Kriegen und Einsätzen enorme Zerstörung gesät – etwa in Tschetschenien oder Syrien. Ähnlich ging teils auch die sowjetische Armee in Afghanistan vor.
Russland attackiert im Ukraine-Krieg aus der Luft: Bitterkeit wächst
Wirkungsvolle Verteidigung gegen die russischen Schläge sei für die Ukraine aktuell nur schwer zu bewerkstelligen, sagte Bielieskow im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Nötig seien mindestens sieben weitere Flugabwehrsysteme, um wenigstens urbane Regionen schützen zu können: „Wir können mit bloßen Händen keine Wunder vollbringen, wir brauchen Technologie.“ Aktuell stehe nur eine dritte Lieferung eines Systems aus Deutschland konkret in Aussicht, womöglich eine weitere aus den USA. Doch allein damit könne die ukrainische Armee nicht wirkungsvoll Widerstand leisten. Zuletzt kursierten Berichte über stark improvisierte Abwehrbemühungen gegen Drohnen-Angriffe an der Front.
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Die Ukrainerinnen und Ukrainer seien indes weiter willens zu kämpfen: „Russland will unseren Staat zerstören, es will die Ukrainerinnen und Ukrainer in Instrumente ihrer imperialen Macht verwandeln“, schilderte Bielieskow die Stimmungslage im Land: „Wir haben keine Wahl“. Er fügte hinzu: „Die Menschen verstehen die Lage des Staates, deshalb haben sie trotz ausbleibender US-Hilfe an der Front gekämpft und sich ausbilden lassen.“
Bielieskow deutete allerdings auch wachsende Bitterkeit in der Ukraine an. Nur dank „eines Wunders und Hingabe“ habe die Armee über die vergangenen sieben Monate die Frontlinien gehalten. Trotz russischer Durchbrüche sei die Lage auch jetzt noch verhältnismäßig stabil. Allerdings habe die Armee „ihre künftige Kampffähigkeit geopfert, um gegenwärtige Bedürfnisse zu stillen“. Russland hingegen passe seine Strategie laufend an – und habe weiter massive Vorteile in der Feuerkraft: „Mehrere hundert“ Artillerie- und Luftschläge führe Putins Militär derzeit tagtäglich an den Frontlinien aus. Der Experte verteidigte auch angesichts dieser Lage den Kampf der ukrainischen Armee und dessen Resultate: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Computersimulation bei Eingabe aller Parameter andere Ergebnisse vorausgesagt hätte als die, die wir jetzt haben.“ (fn)