„Vielleicht die letzte Gelegenheit“: Jüdische Zeitzeugen kehren ins ehemaligen Lager Föhrenwald zurück

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Die Erinnerung darf niemals verloren gehen: Die Menschen beherzigen das. Laut Schätzung der Polizei kamen rund 650 Bürger zu der Gedenkveranstaltung im Wolfratshauser Stadtteil Waldram. © Sabine Hermsdorf-Hiss

Rund 40 jüdische Zeitzeugen und 650 Besucher gedachten am Wochenende mit einem Erinnerungszug dem größten jüdischen DP-Lager Europas und seiner Bewohner.

„Einmal in der Woche, immer donnerstags, war Badetag“, erinnert sich Simon Ajnwojner. Der heute 75-Jährige war damals fünf. Gemeinsam mit seinen Spielkameraden sei er den ganzen Tag draußen gewesen: „Für uns war es hier geradezu paradiesisch“. Doch im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Fiszel (70) bekam er mit, wenn die Eltern mit traurigen Gesichtern über die Schoah sprachen, über Getötete, die sie gekannt hatten. Sie redeten dann Polnisch statt Jiddisch. Letzteres beherrscht Simon Ajnwojner immer noch. Es war einer der Gänsehautmomente des Nachmittags, als er den anderen rund 40 jüdischen Zeitzeugen von der Bühne aus etwas in der gemeinsamen Muttersprache zurief, „damit sie nicht verloren geht“.

Zeichen gegen Antisemitismus: Badehaus-Chefin Dr. Sybille Krafft mit den ehemaligen Lagerinsassen Fiszel  (li.) und Simon Ajnwojner.
Zeichen setzen gegen Antisemitismus: Badehausvereins-Chefin Dr. Sybille Krafft mit den ehemaligen Lagerinsassen Fiszel (li.) und Simon Ajnwojner. © Sabine Hermsdorf-Hiss

Vielleicht die letzte Möglichkeit der Begegnung

Nichts darf verloren gehen: Dieses Ziel verfolgen Dr. Sybille Krafft, Vorsitzende des Vereins Bürger fürs Badehaus Waldram-Föhrenwald, und ihre Mitstreiter seit 13 Jahren. Zum 80. Gründungsjubiläum des Displaced-Persons-Lagers Föhrenwald hatten sie für Samstag ehemalige Bewohner – damals alles Kinder – unter dem Motto „Die Rückkehr der Föhrenwalder“ nach Waldram eingeladen. „Es ist vielleicht die letzte Gelegenheit, so vielen Föhrenwaldern begegnen zu können“, sagte Krafft. Sie freute sich sehr darüber, dass Frauen und Männer aus Israel, aus den USA und aus ganz Deutschland der Einladung des Vereins gefolgt waren. Mindestens ebenso freute sie sich, dass – laut Schätzung der Polizei – etwa 650 Besucher zum „Erinnerungszug“ gekommen waren, darunter 120 Schüler.

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Im heutigen Wolfratshauser Ortsteil Waldram entstand in den 1930er Jahren die Siedlung Föhrenwald. Dort wohnten die Beschäftigten der Geretsrieder Munitionsfabriken. Nach der Niederschlagung des NS-Regimes wurden in den Häusern entwurzelte und verschleppte Menschen, so genannte Displaced Persons (DPs), untergebracht. Föhrenwald war das größte und am längsten bestehende Lager Europas. Mehr als 10 000 Juden lebten zwischen 1945 und 1957 in dem „Schtetl“.

Für den Erinnerungszug wurden 220 Biografie-Tafeln erstellt

Einer von ihnen war der Israeli Shai Lachmann (78). Sein Vater Gustav, ein Holocaust-Überlebender aus Ostgalizien, war Vorsitzender des Lagerausschusses. Lachmann stellte sich mit seiner Biografie-Tafel vor seinem Geburtshaus auf. Etwa 220 solcher Plakate in Blau, mit Schwarz-Weiß-Fotos der damaligen Kinder Föhrenwalds, hat der Badehaus-Verein für den Erinnerungszug erstellt. Auch Shoshana Bellen trug ihr Schild, das ein etwa zweijähriges, pausbäckiges Mädchen mit zerzaustem Haar zeigt, selber. Sie kam 1946 in der Florida Street (jetzt Gebsattelstraße) als Kind galizischer Juden zur Welt. Ihre Geburt war ein kleines Wunder, denn die Mutter war schwer krank. „Meine Eltern starteten hier ein neues Leben als Familie“, sagte sie auf Englisch. Shoshana wuchs in den USA auf. 1969 reiste sie mit ihrem Mann nach Israel aus. Schon mehrmals hat sie den Ort ihrer Kindheit besucht.

Samuel Norich verbrachte die Jahre 1953 bis 1956 im Lager. Damals ein Bub, denkt er gerne an eine „idyllische Zeit“ zurück, mit vielen Freunden in der Schule, mit grasenden Schafen hinterm Haus und Steinewerfen an der Isar. Erst später, so berichtete er, habe er auch Alpträume gehabt, von Krieg und Gefangenschaft. Themen, die aufgrund der Gespräche im Lager wohl in seinem Unterbewusstsein schlummerten.

Auf dem Weg durch die Straßen flossen Tränen

So viele weitere Geschichten, allesamt erzählenswert, verbergen sich hinter den Biografietafeln. Die meisten wurden von Mitgliedern des Badehaus-Vereins, Waldramer Bürgern und anderen Freiwilligen vor den einstigen Häusern der Zeitzeugen hochgehalten. Beim Erinnerungszug durch die Straßen flossen auch Tränen. Etwa bei der US-Amerikanerin Shirley Grill, geborene Sheindel Rivka Apple. Sie weiß, dass Föhrenwald ein Ort war, in dem ihre Eltern einen Neuanfang sahen. Sie mussten keine Angst mehr haben, waren frei und hatten Arbeit. Die Mutter unterrichtete Nähen an der Schule.

Doch der Tag war weit mehr als ein Treffen Ehemaliger. „Wir wollen heute ein Zeichen setzen gegen Geschichtsvergessenheit, Antisemitismus und die bröckelnde Brandmauer zu den Rechtsextremen“, sage Badehaus-Vizevorsitzender Jonathan Coenen. Bürgermeister Klaus Heilinglechner dankte dem Verein dafür, dass er die Erinnerung wachhalte – „nicht aus Pflichtgefühl, sondern als Herzensanliegen“. Für die Stadt Wolfratshausen sei das „ein Geschenk“.

Marsch durch Waldram: (ab 4. v. li.) Shai Lachmann, Peter Scheider (mit Klarinette), FW-Landtagsabgeordneter Florian Streibl und Wolfratshausens Bürgermeister Klaus Heilinglechner.
Marsch durch Waldram: (ab 4. v. li.) Shai Lachmann, Peter Schneider (mit Klarinette), FW-Landtagsabgeordneter Florian Streibl und Bürgermeister Klaus Heilinglechner. © sh

Ehemaliges DP-Lager ein Ort, den man verteidigen muss

Der Freie-Wähler-Landtagsabgeordnete Florian Streibl sagte, er sei zutiefst bewegt. Seit er im Landtag sitze, begleite er das Projekt Erinnerungsort Badehaus. Das Museum wurde 2018 eröffnet. Das DP-Lager sei ein Platz gewesen, an dem jüdisches Leben in Deutschland nach dem Holocaust wieder zu atmen begonnen habe. Ein Platz, an dem die Überzeugung gereift sei, dass nur ein eigener jüdischer Staat dauerhaft Sicherheit geben könne – der 1948 gegründete Staat Israel. Mit Blick auf den aktuellen Nahost-Konflikt ergänzte Streibl: „Ein Ort, den man verteidigen muss und verteidigen darf“.

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Den Gedenktag hatten zahlreiche junge Badehaus-Mitglieder sowie ehemaligen und aktuelle Bundesfreiwilligendienstler mitgestaltet. Sharon, Noel, Liesa, Christine, Foko, Nadine, Gavin und Kristina ließen in szenischen Lesungen die Schicksale von früheren Föhrenwaldern Revue passieren. Shosana Bellen würdigte das mit den Worten: „Thanks to all the young volunteers. You keep the story alive!“ Der Wolfratshauser Kammerchor begleitete die Veranstaltung musikalisch.

Mit einer Lichtinstallation auf dem Badehausdach mit bisher nicht veröffentlichen Farbaufnahmen und Filmen von Föhrenwald um 1947 endete diese. Verantwortlich für das Kunstwerk zeichnen die Wolfratshauser Alfred und Leo Fraas. Die Installation wird in den kommenden Tagen jeweils ab 19 Uhr erneut gezeigt. Von Tanja Lühr