Kreml-Wunder: Wie es Putin gelingt, Russland bis an die Zähne zu bewaffnen
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Während in Deutschland die Debatte über Ausrüstungslücken, Haushaltsengpässe und Lieferverzögerungen anhält, läuft in Russland eine industrielle Maschinerie, die im Begriff ist, die militärischen Kräfteverhältnisse in Europa grundlegend zu verändern. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist längst auch ein Rüstungswettlauf - und Moskau läuft derzeit am schnellsten.
Kreml-Despot Wladimir Putin ist es mit seiner Rüstungsindustrie gelungen, die Nato-Staaten bei der Produktion von Kriegsgerät zu überholen. Das geht aus einem Bericht von „Zeit online“ hervor, der sich auf Militärexperten, Ökonomen und Analysten beruft.
So zeigt eine Analyse des britischen Think Tanks Royal United Services Institute (RUSI), dass Russland seine Waffenproduktion seit 2022 drastisch gesteigert hat - sowohl durch die konsequente Mobilisierung vorhandener Ressourcen als auch durch gezielte Investitionen in neue Produktionslinien.
Ukraine-Krieg: Putins Aufrüstungsplan geht auf
Bereits zu Beginn des Ukraine-Krieges habe Russland einen klaren Plan zur militärisch-industriellen Mobilisierung umgesetzt. Die Ukraine hingegen habe sich auf industrielle Strukturen aus der Sowjetzeit gestützt, jedoch ohne kohärenten Gesamtplan.
Um seine Kriegsmaschinerie auf- und auszubauen und aufrechtzuerhalten, hat Putin der Analyse zufolge nicht nur die Verteidigungsausgaben erhöht, sondern auch Mittel aus anderen Haushaltsbereichen umgeschichtet und Kredite an die Rüstungsindustrie vergeben.
Diese Expansion habe es der russischen Führung ermöglicht, nicht nur die bestehenden Frontverbände kontinuierlich zu versorgen, sondern auch neue Einheiten aufzubauen. Auch die tägliche Munitionsproduktion habe sich, etwa durch die Kooperation mit Nordkorea, stabilisiert.
Auch ein Blick in die Statistik zeigt, dass die Militärproduktion stark zugenommen hat. Daten von Rosstat, der staatlichen russischen Statistikbehörde, zeigen, dass die Produktion von "fertigen Metallerzeugnissen", zu denen auch Munition oder Raketen gezählt werden, seit 2022 um mehr als 70 Prozent gestiegen ist. Ähnliches gilt für die Produktion von "sonstigen Fahrzeugen", zu denen auch Panzer und Truppentransporter zählen. Hier stieg die Produktion um zwei Drittel.
Russland produziert 1500 Panzer pro Jahr
Diese Entwicklung beobachtet auch der Schweizer Militärexperte Albert Stahel. Vor allem bei der Panzerproduktion sei Russland im Vorteil - die Produktion könne das Zwei- bis Dreifache der europäischen Kapazität betragen, sagte der Experte gegenüber FOCUS online. Einschränkend fügt er jedoch hinzu: „Bei komplexeren Systemen wie Kampfflugzeugen hinkt Russland hinterher – das zeigt etwa die schleppende Auslieferung des schweren Jagdbombers Su-34.“
Eine Analyse des Kieler Instituts für Wirtschaft (IW) kommt zu dem Ergebnis, dass Russland derzeit mindestens 130 Panzer pro Monat oder umgerechnet gut 1500 pro Jahr produziert.
Diese hohen Produktionszahlen erreicht Russland unter anderem dadurch, dass Putins Armee „vor allem auf alte sowjetische Bestände aus den Lagern zurückgreift“, erklärt der Militärexperte Alexandr Burilkow, einer der Autoren der Studie gegenüber „Zeit online“.
Während Russland seine Panzerproduktion hochgefahren hat - eine Mischung aus Neuproduktion und Modernisierung alter T-72 und T-80 - kommt Deutschland nur langsam voran. Zwischen März 2022 und Juli 2024 habe Berlin lediglich 18 neue Kampfpanzer bestellt, allesamt als Ersatz für an die Ukraine gelieferte Modelle, heißt es in der IW-Studie.
Erst im Juli 2024 sei mit der Bestellung von 105 Leopard-Panzern erstmals ein nennenswerter Aufbau erfolgt. Doch auch mit diesem Schritt bleibt Deutschland weit hinter früheren Kapazitäten zurück: Um den Panzerbestand von 2004 (knapp 2400 Stück) wieder zu erreichen, würde es nach Berechnungen des Kieler „Military Procurement Trackers“ beim aktuellen Beschaffungstempo mehr als 40 Jahre dauern.
Damit bestätigt sich ein zentrales Ergebnis der Studien: Bei den schweren Waffensystemen, insbesondere den Kampfpanzern, ist Europa weit davon entfernt, mit der industriellen Schlagkraft Russlands Schritt zu halten.

Europas Rüstung hinkt hinterher
Gleichzeitig zeigt sich auf europäischer Seite ein gegenläufiges Bild. Die Waffenbestände in Deutschland, Frankreich, Polen und Großbritannien sind über die Jahrzehnte - vor allem in der Phase nach dem Kalten Krieg - deutlich zurückgegangen.
Insbesondere in Deutschland sank die Zahl der Kampfpanzer zwischen 1992 und 2021 von rund 4000 auf nur noch 339, auch Artillerie, Flugabwehr und Kampfflugzeuge wurden drastisch reduziert, heißt es in der IW-Studie.
Stahel warnt in diesem Zusammenhang auch vor einem hypothetischen Szenario: „Sollte die Sicherheitsgarantie der USA für Europa wegfallen, könnte Russland ab 2027 seine Überlegenheit bei den Panzertruppen nutzen, um politischen und militärischen Druck auf Polen oder die baltischen Staaten auszuüben“.
Ein offener Krieg wäre für Russland angesichts der westlichen Luftüberlegenheit zwar verlustreich - auszuschließen sei ein solches Szenario aber nicht, so der Experte.
Anstieg an Rüstungsbestellungen in Deutschland
Zwar ist seit Kriegsbeginn ein Anstieg der Rüstungsbestellungen in Deutschland zu verzeichnen, wie aus dem „Kiel Military Procurement Tracker“ hervorgeht - dieser bleibt jedoch deutlich hinter dem tatsächlichen Bedarf zurück. So sei der Bestand an Panzerhaubitzen - einem Schlüsselwaffensystem im Ukraine-Krieg - bislang kaum erhöht worden. Mit einer Rückkehr auf das Niveau von 2004 sei beim derzeitigen Bestelltempo nicht vor dem Jahr 2121 zu rechnen, schreiben die Autoren der IW-Studie.
Russlands Produktion sei dagegen nicht nur quantitativ überlegen, sondern auch besser koordiniert: Zentral gesteuerte Prozesse, klare Zielvorgaben und die Kenntnis der Lieferketten hätten eine effiziente Industrie entstehen lassen - im Gegensatz zu Europas zersplitterten, oft konkurrierenden Rüstungssektoren.
Besonders besorgniserregend sei der massive Anstieg der Produktion von Drohnen und Lenkwaffen, gegen die der Schutz an der Nato-Ostflanke bislang lückenhaft sei, zeigen die Ergebnisse der RUSI-Studie.
Laut Stahel müsse Europa die konventionellen Fähigkeiten, insbesondere bei schweren Waffensystemen wie Kampfpanzer, dringend stärken. Denn: „Russland produziert wieder Waffensysteme wie der Kampfpanzer T-72. Dieser Typ stammt aus dem Kalten Krieg, dies muss aber kein Nachteil sein.“
Wer mehr produziert, hat strategisch die besseren Karten
Trotz technischer Schwächen in einigen Bereichen sehen die Studien einen klaren Vorteil auf russischer Seite: die schiere Menge der produzierten Waffen. Russland setzt auf Masse statt auf Spitzentechnologie. Ermöglicht wird dies auch durch Produktionsmethoden, bei denen Sicherheitsstandards häufig missachtet werden. Zudem greift die Industrie nach wie vor stark auf überholte Altbestände aus Sowjetzeiten zurück.
Dieses Vorgehen ermögliche aber kurzfristig eine militärische Handlungsfähigkeit, die viele europäische Staaten derzeit nicht aufbringen könnten, resümieren die Autoren.
Dennoch gibt Stahel vorerst leichte Entwarnung: „Solange die Nato - und insbesondere die Europäer - die Luftüberlegenheit behalten, ist ein Krieg trotz der russischen Panzerüberlegenheit eher unwahrscheinlich.“
Dennoch sehen die Autoren der Studie dringenden Handlungsbedarf: Eine langfristig abgesicherte europäische Rüstungsstrategie, klare politische Zielsetzungen und eine industriepolitische Öffnung hin zu gemeinsamen Beschaffungsprojekten seien notwendig, um den wachsenden Rückstand zu stoppen.
In der gegenwärtigen Dynamik gelte: Wer mehr produziert, hat strategisch die besseren Karten - ob auf dem Schlachtfeld oder am Verhandlungstisch.