„Schlechte Verliererinnen“: Experte analyisert die Spanierinnen nach EM-Drama
Nach dem verlorenen EM-Finale zeigte sich das spanische Team von seiner unsportlichen Seite. Die Reaktionen reichten von verständnisvollem Augenrollen bis zu scharfer Kritik. Doch hinter diesem Verhalten steckt mehr als bloße Enttäuschung.
Verlierer sind Versager: Der Denkfehler unserer Leistungsgesellschaft
Es ist ein Symptom unserer Zeit: Verlieren ist keine Option mehr. Wer nicht gewinnt, verschwindet. Wer Zweiter wird, zählt nicht. Und wer Haltung zeigt in der Niederlage, gilt schnell als weich. Dieses Denken zieht sich vom Spielfeld über die Vorstandsetage bis in die Kinderzimmer.
Ein bitteres Beispiel: Jeder kennt Neil Armstrong, den ersten Menschen auf dem Mond. Aber wie hieß der Zweite? Eben. Buzz Aldrin – nur 19 Minuten später – ist heute nahezu vergessen. Weil unsere Gesellschaft nur Platz 1 feiert. Der Rest? Fußnote. Verschwunden in der Nebelzone des Mittelmaßes.
Ob EM-Finale, Tennis-Court oder Olympiade: Wer die Bilder nach einer Niederlage anschaut, sieht oft mehr als Frust. Da fliegen Trikots, werden Gegner beleidigt, Schiris angebrüllt. Die Rhetorik ist überall gleich: unfair, unverdient, ungerecht. Kaum jemand sagt: „Wir waren einfach nicht gut genug.“ Lieber verletzt man verbal andere – statt die eigene Eitelkeit zu hinterfragen.
Warum? Weil Niederlagen im Hochleistungssystem als persönliches Versagen gelten. Nicht nur bei Profisportlern. Auch bei Führungskräften, Schülern, Selbstständigen. Wer verliert, verliert Ansehen. Und das ist in einer Gesellschaft, die sich ständig optimieren will, gefährlicher als ein gebrochener Knochen.
Wir haben verlernt, mit Niederlagen umzugehen
Fairness wird gerne eingefordert – aber nur, solange sie zum eigenen Sieg beiträgt. Wenn das Ergebnis nicht stimmt, wird aus dem Fair-Play-Helden schnell der Nörgler. Denn wir haben verlernt, mit Niederlagen umzugehen. Statt Resilienz lernen wir Rechtfertigung. Statt Haltung sehen wir Heulkrämpfe im Trikot.
Dabei zeigt sich Charakter nicht im Jubel, sondern in der Niederlage. Wer da ruhig bleibt, die eigene Leistung einordnet und dem Gegner gratuliert, beweist wahre Größe. Leider gilt so jemand heute oft als weich. Oder, schlimmer noch: als nicht ehrgeizig genug. Diese Verdrehung ist toxisch. Und sie zieht sich durch alle Lebensbereiche.
Erfolgswahn verdrängt Empathie und Anstand
„Wer gewinnen will, muss brennen“, heißt es. „Und wer brennt, darf auch mal explodieren.“ Doch das ist ein gefährlicher Mythos. Schlechte Verlierer sind keine besonders leidenschaftlichen Sieger – sondern Menschen mit mangelnder Selbstregulation. Ihr Ehrgeiz ist nicht fokussiert, sondern unkontrolliert. Er richtet sich gegen andere – und gegen sich selbst.
Natürlich: Ohne Ehrgeiz kein Fortschritt. Aber ohne Frustrationstoleranz keine Entwicklung. Wer nicht verlieren kann, wird irgendwann untergehen – im Sport wie im Management. Es ist kein Zeichen von Stärke, wenn man im Moment der Niederlage alles um sich herum zerstört. Es ist ein Zeichen von fehlender Reife.
Es ist ein gesellschaftliches Symptom. Denn wir alle spielen dieses Spiel mit. Wir feiern Sieger, zitieren ihre Sätze, schreiben ihre Namen in Geschichtsbücher. Die Zweiten? Fußnoten. Oder – wie Buzz Aldrin – schlicht vergessen.
Was wir bei unseren Kindern anders machen müssen
Nur nicht Platz zwei werden. Kinder spüren schnell, was zählt. Wer beim Fußball verliert und dafür einen schiefen Blick vom Vater erntet, merkt: Verlieren ist nicht erlaubt. Wer in der Schule einen Zweier schreibt und damit hört, dass andere eine Eins hatten, lernt: Fast reicht nicht. Das prägt sich tief ein. Und zerstört langfristig die Lust am Lernen, am Risiko, am Ausprobieren.
Denn wer nur geliebt wird, wenn er gewinnt, entwickelt keine Persönlichkeit – sondern eine Leistungshülle. Wir züchten keine resilienten, kreativen, empathischen Menschen – sondern Getriebene. Und das beginnt nicht erst im Sportinternat, sondern schon im Kindergarten. Wenn beim Topfschlagen der Schnellste den größten Applaus bekommt.
Die toxische Leistungsspirale im Job
Diese Denkweise setzt sich in der Arbeitswelt fort: Präsentationen müssen „gewinnen“, Projekte „den Markt dominieren“, Mitarbeitende sich „durchsetzen“. Wer Ideen äußert, die nicht zünden, wird nicht ermutigt – sondern entwertet. Führung bedeutet in vielen Unternehmen heute: Stärke zeigen, keine Schwäche. Kritik wegmoderieren, nicht verdauen.
Dabei zeigen Studien klar: Wer reflektiert mit Rückschlägen umgeht, führt nachhaltiger, gesünder und erfolgreicher. Doch solange wir unsere zweite Plätze verschweigen und Schwächen als Karriereknick behandeln, bleiben wir in einer toxischen Leistungsspirale.
Ein Umdenken ist dringend nötig
Wir müssen endlich umdenken. Nicht jeder kann immer Erster sein – und das ist gut so. Denn auf dem Weg zur Spitze liegt die wahre Entwicklung. Im Umgang mit Misserfolg liegt das Wachstum. Und im fairen Verlieren liegt die Menschlichkeit.
Wir brauchen eine Kultur, in der der Zweite auf dem Mond ebenso Anerkennung bekommt wie der Erste. In der Kinder lernen: Verlieren ist nicht schlimm – unfair sein schon. In der Chefs sagen: „Wir haben dazugelernt.“ Und in der Sportler nach einem Finale sagen: „Wir haben alles gegeben – und gratulieren dem Besseren.“
Denn am Ende zählt nicht der Pokal in der Hand – sondern der Mensch im Spiegel.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.