Täglich Explosionen im Wald: Fabrik in Norwegen produziert Spezialmunition für Ukraine

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Im Städtchen Raufoss nördlich von Oslo produziert Nammo Raketen für die Ukraine. Ziel: Die NATO-Reserven aufzustocken. Doch das könnte Jahrzehnte dauern.

Oslo – Noch immer liegt Schnee auf den Tannen ringsum. Kein Lüftchen regt sich, irgendwo krächzt ein Rabe. Dann plötzlich ein lauter Knall, eine Explosion. Thorstein Korsvold, der Zwei-Meter-Mann, zuckt nicht mal mit der Wimper. „Das haben wir hier alle paar Stunden“, sagt er trocken und zeigt in Richtung Wald, wo regelmäßig neue Munition getestet wird. Dann stapft er weiter durch den Schnee zur riesigen Halle, in der aus glühendem Stahl Raketen wachsen.

Ein Straßenschild in Raufoss in Norwegen und ein Haus im Schnee
„Verteidigungsausrüstung“ steht auf dem Schild über dem Logo von Rüstungsproduzent Nammo. Wer durchs idyllische Städtchen Raufoss schlendert, rechnet nicht damit, dass direkt neben an ein moderner Industriepark liegt, wo Munition für die Ukraine produziert wird. © Peter Sieben

Spezialmunition und Raketen für die Streitkräfte in der Ukraine: Gesamte Produktion wird im Krieg verschossen

Thorstein – in Norwegen spricht man sich immer nur mit Vornamen an – ist Pressesprecher beim Rüstungskonzern Nammo, einem der größten Europas. Hier in Raufoss, knapp 130 Kilometer nördlich von Oslo, bauen sie vor allem Infanteriemunition und Spezialmotoren für Raketen. Zum Beispiel für die Luft-Luft-Lenkwaffe AMRAAM, die auch die ukrainischen Streitkräfte nutzen. Überhaupt wird aktuell fast alles, was hier produziert wird, irgendwann dort im Krieg verschossen.

Dabei scheint Raufoss, das zwischen weiten Wäldern und gefrorenen Seen liegt, so weit weg vom Krieg zu sein wie kaum ein anderer Ort in Europa. Bunte Holzhäuser säumen die geschlängelten Sträßchen, es gibt nur eine Handvoll Gaststätten, von denen die Hälfte um 20 Uhr geschlossen hat. Eine 100 Jahre alte Offiziersmesse mit historischen Gewehren und Säbeln an den Wänden ist das einzige Hotel im Kern der idyllisch anmutenden 8000-Einwohner-Stadt, wo man sich für alles Zeit lässt. Nur die Hunnselva jagt irre schnell mitten durchs Zentrum: Der Fluss ist der Grund, dass sich hier überhaupt Industrie angesiedelt hat, erklärt Øivind Hansebråten.

Neben Rüstungskonzern Nammo noch 50 weitere Unternehmen im Raufoss Industriepark in Norwegen

Er ist der Chef vom Raufoss-Industriepark, neben Nammo sind noch knapp 50 weitere Unternehmen angesiedelt, darunter auch der deutsche Automotive-Spezialist Benteler, der große Marken auf der ganzen Welt beliefert. Angefangen hat alles 1873 mit einer Streichholzfabrik und wenig später einem allerersten Munitionswerk der norwegischen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg. Mit dem NATO-Beitritt Norwegens wurde die Waffenproduktion immer wichtiger. Die Energie lieferte der Fluss, schon Anfang des 20. Jahrhunderts stand hier ein Wasserkraftwerk. Heute umfasst das Gelände rund 270.000 Quadratmeter, „Ich weiß, in Deutschland ist alles größer, aber für uns ist das schon ganz gut“, sagt Øivind und grinst.

Sensible Informationen mit Bezug zum Ukraine-Krieg: Fotos dürfen nur an einer einzigen Stelle gemacht werden

Tatsächlich ist der Park nach deutschen Maßstäben überschaubar. Zum Vergleich: Der Chempark in Leverkusen hat eine Fläche von fast fünf Millionen Quadratmetern. Dafür geht hier alles familiär zu. Die allermeisten der 3000 Mitarbeiter leben in Raufoss, es gebe viel Austausch zwischen den Unternehmen. „Das Know-how wird geteilt“, sagt Øivind. Beim Raufoss Katapult Center etwa können Start-ups Prototypen testen.

Der Park setzt auf Diversifizierung und Nachhaltigkeit, bis 2030 soll er doppelt so groß werden. Wichtiger Kern ist aber wie vor über 100 Jahren die Rüstungsindustrie, sagt Nammo-Sprecher Thorstein, der jetzt in der Fertigungshalle steht. Sie macht den Park auch zu einem potenziellen Angriffsziel, weshalb hier strenge Regeln herrschen. Wer aufs Gelände will, muss durch eine Sicherheitsschleuse. Allen Gebäude sind in zufälliger Reihenfolge Buchstaben zugeordnet, damit von außen niemand ahnen kann, was wo produziert wird. Und in der Nammo-Fabrik dürfen Fotos nur an einer einzigen Stelle gemacht werden.

Geschosse für die M72-Panzerabwehrwaffen: Soldaten in der Ukraine nutzen sie massenhaft

Ein Arbeiter an einer Maschine in der Munitionsfabrik von Nammo in Raufoss in Norwegen
Präzision hat eine hohe Priorität: Mithilfe von Robotern und Computertechnik werden die Projektile gefertigt. © Peter Sieben

Immerhin: Es geht um sensible Informationen, die im Zweifel kriegsentscheidend sein könnten, sagt Thorstein und zeigt auf riesige Stahltonnen, die bis zum Rand gefüllt sind mit armlangen Metallhülsen. Daraus werden mal Geschosse für die M72-Panzerabwehrwaffe, die ukrainische Soldaten massenhaft verwenden, um sich gegen Putins Einmarsch zu wehren.

Ein paar Meter weiter werden in einem blau leuchtenden Kasten, der aussieht wie aus einem Science-Fiction-Film, Metallhülsen in Form gefräst: Artillerie-Munition mit einer Reichweite von 40 Kilometern. „Das ist ein ganz neues Thema“, erklärt Thorstein. „Seit Jahrzehnten sind Geschosse mit 20-Kilometer-Reichweite Standard. Jetzt wird die Strecke quasi verdoppelt.“ Die fertigen Projektile müssen mit extremer Präzision angefertigt werden, deswegen geht hier nichts ohne Roboterarme und sehr viel Computertechnik, die eine Genauigkeit von einem Tausendstel Millimeter garantieren. „Wiegt locker 30 bis 40 Kilo“, sagt Thorstein und stemmt eine der fertigen Stahlhülsen in die Höhe.

NATO-Vorrat wieder aufzufüllen, dauert Jahrzehnte: In der Ukraine verschießt jede Artillerie-Einheit acht Projektile pro Minute

Thorstein Korsvold, Pressesprecher von Nammo, stemmt eine Stahlhülse
Thorstein Korsvold stemmt eine der fertigen Hülsen: „Wiegt locker 30 bis 40 Kilo.“ © Peter Sieben

Mit der Produktion kommen sie hier kaum hinterher, Nammo müsse seine Hallen bald erweitern, sagt der Pressesprecher. Zwei ganze Räume werden allein von einer riesigen hydraulischen Presse eingenommen, die gigantische Stahlblöcke zu platten Rohformen stampft. Das Ziel aller Munitionsfabriken in Europa sei, den NATO-Vorrat wieder aufzufüllen und das Material auszugleichen, das im Ukraine-Krieg verbraucht wird. Doch wenn es noch lange mit dem Krieg so weitergehe, werde das Jahrzehnte dauern, rechnet Thorstein an einem Beispiel vor: Pro Minute verschieße eine Artillerieeinheit acht Projektile. Und über 1000 Artilleriewaffen seien auf ukrainischer Seite im Einsatz. „Wir sind stolz auf unsere Produktion“, sagt Thorstein. „Aber es hat alles zwei Seiten. Wenn unser Geschäft besonders gut läuft, hat das düstere Gründe.“

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