Keine Mehrheit ohne BSW: So sieht es in Thüringen aus – jedenfalls ohne AfD-Beteiligung. Experten erklären bei IPPEN.MEDIA, was zu erwarten ist.
Sahra Wagenknecht dürften die Ost-Landtagswahlen einen fröhlichen Wahlabend beschert haben – gerade beim Blick auf die Ergebnisse in Thüringen: Ohne ihr neues BSW oder die AfD ist keine Mehrheit im Thüringer Landtag möglich. Und die AfD dürfte außen vor bleiben, wie Politologe André Brodocz von der Uni Erfurt glaubt: Mit einer Regierungsbeteiligung von Björn Höckes Thüringen-AfD sei angesichts der Versprechen der anderen Parteien „im Moment wirklich gar nicht zu rechnen“, sagte er IPPEN.MEDIA.
Der CDU als zweitstärkster Kraft bleiben zwei Optionen: eine Koalition mit BSW, SPD und Linker – oder eine Minderheitsregierung. Spitzenkandidat Mario Voigt will erst mit der SPD sprechen, aber auch mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht. Fragt sich: Was wäre vom BSW in einer Landesregierung zu erwarten? Brodocz sah im Gespräch am Wahlabend mehrere Unwägbarkeiten.
Was will das BSW in Thüringen? „Schwer abzuschätzen“
Das BSW in Thüringen – die Inhalte: „Programmatisch ist es noch sehr, sehr offen“, sagt Brodocz mit Blick auf die junge (und gemessen an den Mitgliederzahlen sehr kleine) Partei. Im Wahlkampf hatten Wagenknecht und ihre Mitstreiter vor allem mit Forderungen zum Ukraine-Krieg getrommelt – Friedensverhandlungen statt Waffenlieferungen und ein Nein zu US-Mittelstreckenraketen standen weit oben auf der Agenda. „Das ist der Partei sehr wichtig, da wird man Formelkompromisse suchen. Wie die aussehen könnten, ist am heutigen Abend noch gar nicht abzuschätzen“, erklärt der Experte.
Spitzenkandidatin Katja Wolf pochte indes am Montag auf diese Themen. „Für uns ist das ein Markenkern“, sagte sie der dpa. Experte Jürgen Falter von der Uni Mainz hatte schon am Wahlabend im Gespräch mit IPPEN.MEDIA abgewinkt. „Man kann unmöglich in landespolitischen Koalitionsvereinbarungen dem Bund vorschreiben, was er zu tun und zu lassen hat“, betonte er. Bestenfalls „windelweiche“ Kompromisse ohne jeden Belang für die Bundespolitik seien denkbar.
Eine erste mögliche Sollbruchstelle also. Und sonst? Es sei „schwer abzuschätzen, in welcher Form es dem BSW ausreicht, dass sich eine neue Landesregierung für mehr Diplomatie und Frieden einsetzt“, meint Brodocz. Im 55-seitigen Thüringen-Wahlprogramm hatte das BSW auch „Integration“, „Bildung und kulturelle Vielfalt“ und Gesundheitsversorgung thematisiert. Ganz oben stand auch dort aber der Punkt „ohne Frieden ist alles nichts“. Soziologin Silke van Dyk hatte eine Warnung parat: BSW-Mitglieder äußerten sich seit der Parteigründung „deutlich radikaler als noch zu Wagenknechts Zeiten in der Linken“, sagte die Jenaer Professorin IPPEN.MEDIA.
„Ich-AG“ Wagenknecht und das Thüringen-Personal: Minister-Überraschungen sind möglich
Wagenknecht, Wolf und mögliche Thüringen-Minister: Ein Kabinett mit BSW-Beteiligung scheint noch weit entfernt – zuerst kommen die Sondierungen und gegebenenfalls Koalitionsgespräche. Und schon die ersten Gespräche könnten heikel werden. Parteigründerin Sahra Wagenknecht hatte vor der Wahl angekündigt, bei Verhandlungen dabei sein zu wollen. Noch-Ministerpräsident Bodo Ramelow beklagte sich über eine politische „Ich-AG“. Voigt sieht in Wolf seine „Ansprechpartnerin“. Die erklärte im Deutschlandfunk, sie werde sich mit der Parteispitze abstimmen – Wagenknecht werde aber nicht mit am Verhandlungstisch sitzen.
Meine news
Sollte es tatsächlich BSW-Minister geben, hält Brodocz Überraschungen für möglich. Er könne sich vorstellen, „dass sich das BSW dafür entscheidet, nicht alles mit Führungsleuten aus der eigenen Partei zu besetzen“. Stattdessen könnten „Experten für bestimmte Bereiche“ nominiert werden: „Man legt schon größeren Wert darauf, Menschen für die Politik zu gewinnen, die sich bisher herausgehalten haben.“
Schwierige Mehrheitssuche in Thüringen: Experten sehen große Probleme zwischen CDU und BSW
Ein Pakt zwischen BSW und CDU – kann das funktionieren? Die Unterschiede sind groß: „BSW und CDU sind in vielem noch weiter voneinander entfernt als Grüne und CDU“, sagte Jürgen Falter IPPEN.MEDIA. André Brodocz sieht auch praktische Unwägbarkeiten. Die BSW-Fraktion sei „eine Gruppe, die vorher noch gar nicht in dieser Form zusammengearbeitet hat“.
„Beim BSW haben wir zum Beispiel in Thüringen im Gothaer Stadtrat gesehen, dass schon wenige Wochen nach der Stadtratswahl die Ersten wieder aus der Stadtratsfraktion ausgetreten sind, weil sie unzufrieden waren, wie in der Landespolitik gehandelt wurde“, sagt der Erfurter. Ein – noch vergleichsweise angenehmes – Problem des Wahlabends scheint aber bereits wieder passé:
Längere Zeit schien es, als sei eine sehr knappe Mehrheit für ein CDU-BSW-SPD-Bündnis möglich. Dieses hätte dann „sehr diszipliniert“ arbeiten müssen, wie Brodocz betonte. Nach dem vorläufigen Endergebnis ist nun auch die Linke für eine Mehrheit ohne AfD nötig. Ein solcher Pakt jedweder Art hätte eine komfortablere Mehrheit, ist aber enorm schwer zu schmieden. Mit der Linken hat die CDU noch größere Probleme als mit dem BSW. Es gibt einen Unvereinbarkeitsbeschluss zur Linken. Auch wenn Ex-Generalsekretär Mario Czaja schon am Montag im Deutschlandfunk dessen Aufhebung forderte.
BSW will eine Rolle in Thüringen: Klar scheint jedenfalls schon jetzt: Das BSW will in die Verantwortung. Zumindest als Tolerierungspartner. Eine Minderheitsregierung, „so wie wir sie in den letzten fünf Jahren erlebt haben“, dürfe „so keine politische Zukunft haben“ in Thüringen, sagte Wolf der dpa. Alle politische Erfahrung zeigt: Auch eine Tolerierung gibt es nicht ohne Zugeständnisse. Das BSW wird dafür Einfluss nehmen wollen. (fn)