Bürgergeld wird zur „Neuen Grundsicherung“ – Sozialverbände äußern Befürchtung für Empfänger
Spätestens mit dem neuen Koalitionsvertrag wird deutlich, das Bürgergeld wird es so künftig nicht mehr geben. Fachleute sehen darin einen gravierenden Rückschritt.
Frankfurt – Der Koalitionsvertrag steht, Union und SPD haben sich geeinigt. Mit der designierten Merz-Regierung dürfte sich in den kommenden vier Jahren einiges ändern. Bereits lange vor der Wahl stand fest, die CDU will das Bürgergeld abschaffen und durch die „neue Grundsicherung“ ersetzen. Sozialverbände sehen den geplanten Weg kritisch und einen Widerspruch zur Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes.
Union und SPD wollen „neue Grundsicherung“ – Experte sieht „Rolle rückwärts in das alte Hartz-IV-System“
Im Koalitionsvertrag von CDU, SPD und CSU heißt es: „Sanktionen müssen schneller, einfacher und unbürokratischer durchgesetzt werden können. Dabei werden wir die besondere Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen berücksichtigen.“ Bei der Verschärfung der Sanktionen soll den Parteien zufolge die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes berücksichtigt werden.

Die CDU argumentierte, dass der Grundsatz „Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der es nicht tut“ durch das Bürgergeld oft untergraben werde. Besonders im Fokus stehen deshalb die sogenannten „Totalverweigerer“. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“
Ein Experte des Sozialverbands VdK Deutschland erklärt gegenüber IPPEN.MEDIA: „Die Pläne zur neuen Grundsicherung sind aus unserer Sicht eine Rolle rückwärts in das alte Hartz-IV-System – ohne Reflexion und Prüfung, ob sich Regelungen bewährt haben oder zeitgemäß sind.“
Rahmen möglicher Sanktionen für Bürgergeld „bereits ausgeschöpft“
Der Experte erklärt, dass der Rahmen möglicher Sanktionen durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2019 „nach unserer Einschätzung bereits ausgeschöpft“ ist. Bereits jetzt sei es möglich, zwei Monate die Leistungen von Bürgergeldempfängerinnen und Bürgergeldempfängern zu streichen: „Wie hier eine weitere verfassungsgemäße Verschärfung rechtssicher vorgenommen werden soll, können wir uns gerade in allen Einzelheiten überhaupt nicht vorstellen.“
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Zudem würden sogenannte „Totalverweigerer“ nur einen geringen Anteil „im Promillebereich“ ausmachen. Der Experte erklärt: „Mit einer solchen Politik des Misstrauens wird vielen anderen Bürgergeld-Empfängerinnen und -empfängern Angst gemacht.“ Häufig seien dies Menschen, die ohnehin unter schwerer Belastung durch Arbeitssorgen leiden.
Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 2019 geht hervor:
- Leistungskürzungen von mehr als 30 Prozent des Regelsatzes sind verfassungswidrig. Sie verletzen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum
- Kürzungen bis zu 30 Prozent bleiben unter strengen Voraussetzungen zulässig. Sie müssen jedoch verhältnismäßig sein und dürfen nicht starr, sondern nur nach Einzelfallprüfung verhängt werden.
- Die bisherige Praxis, Sanktionen für eine Dauer von drei Monaten zwingend aufrechtzuerhalten, ist ebenfalls verfassungswidrig. Jobcenter müssen Leistungen wieder gewähren, sobald Betroffene ihrer Mitwirkungspflicht nachkommen.
- Besonders harte Sanktionen für unter 25-Jährige wurden für unzulässig erklärt.
- Gesetzgeber darf grundsätzlich Mitwirkungspflichten auferlegen und deren Verletzung sanktionieren. Jedoch nur verhältnismäßig.
Neue Grundsicherung soll kommen: Expertin warnt vor „unsäglicher Neiddebatte“
Auch Michaela Engelmeier, Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschland SoVD erklärt gegenüber IPPEN.MEDIA: „Es ist falsch, dass wachsender politischer Druck immer wieder die Schwächsten der Gesellschaft trifft“. Rund um das Bürgergeld wird ihr zufolge eine „unsägliche Neiddebatte“ geführt, „oft fernab von Fakten“.
Sie beschreibt: „Teilhabe und ein Leben ohne Angst vor Armut sind mit solch niedrigen Leistungen kaum möglich.“ Zwar braucht es laut Engelmeier Anreize, um Menschen wieder in Arbeit zu bringen: „Aber vom richtigen Ansatz des Förderns abzurücken und stattdessen das Fordern in den Mittelpunkt zu stellen, ist nicht zielführend.“
Neuen Grundsicherung: SoVD sieht Widerspruch zur Rechtssprechung von Bundesverfassungsgericht
Engelmeier erklärt: „Das Bürgergeld basiert bereits auf dem Prinzip des Förderns und Forderns. Eine weitere Verschärfung der Sanktionen würde dieses Gleichgewicht ins Wanken bringen.“ Besonders kritisch sei es, dass die Parteien einen vollständigen Leistungsentzug planen. „Das ist aus verfassungsrechtlicher Sicht höchst problematisch. Die Koalition hat zwar erklärt, die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu achten, jedoch ist dies unter Beachtung des Urteils aus dem Jahr 2019 fragwürdig.“
Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), erklärt gegenüber IPPEN.MEDIA: „Der DGB lehnt eine Verschärfung von Sanktionen ab. Arbeitssuchende werden erpressbar, wenn sie jede Arbeit annehmen müssen, egal zu welchen Bedingungen.“ Die Maßnahme würde Arbeitgebern in die Hände spielen, „deren Geschäftsmodell auf prekärer und niedrig entlohnter Arbeit beruht – und schadet allen Beschäftigten“, so Piel. Auch ein Experte des IAB warnte zuletzt vor einer „Entweder-oder-Politik“. (bk/cln)