„Sogar in Deutschland herrscht Angst, darüber zu sprechen“: 35 Jahre Tiananmen-Massaker

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Der „Tank Man“ ist das bekannteste Symbol für die Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989. © Jeff Widener/dpa

Vor 35 Jahren ließ die Kommunistische Partei Chinas die Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking blutig niederschlagen. Was wissen junge Chinesen heute über das Massaker?

Ein einzelner Mann, der sich einer Kolonne Panzern entgegenstellt: Es ist das wohl bekannteste Bild der Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Hunderttausende waren 1989 in der chinesischen Hauptstadt, aber auch an Dutzenden anderen Orten im ganzen Land, für mehr Demokratie auf die Straßen gegangen. Am 4. Juni 1989 ließ die kommunistische Führung die Proteste in Peking blutig niederschlagen, Hunderte, vielleicht sogar Tausende, kamen ums Leben. Warum die Kommunistische Partei das Massaker heute nicht mehr nur totschweigt, erklärt der Sinologe Daniel Leese im Interview.

Herr Leese, was wissen junge Chinesinnen und Chinesen heute über das Tiananmen-Massaker?

In Schulbüchern werden die Proteste nicht thematisiert. Die Parteipresse erwähnt jedoch gelegentlich die „politischen Turbulenzen“ jener Jahre. Es ist nicht so, dass junge Menschen in China gar nichts darüber wissen. Manche informieren sich trotz der Zensur, etwa indem sie über VPN-Netzwerke Internetseiten lesen, die in China eigentlich gesperrt sind. Aber weil das Thema derart tabuisiert ist, überlegen sie es sich sehr genau, mit wem sie offen darüber sprechen. Diese Angst spüre ich sogar hier in Deutschland unter chinesischen Studierenden.

Wie äußert sich das?

Wir diskutieren die Proteste gelegentlich im Unterricht. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass sich viele chinesische Studierende anfangs sehr zurückhalten, weil sie nicht wissen, was sie vor ihren chinesischen Kommilitonen sagen können und was nicht. Erst wenn sie merken, dass sie sich in einer sicheren Umgebung befinden, werden sie offener.

Zur Person

Daniel Leese ist Professor für Sinologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Von ihm erschienen zuletzt „Maos langer Schatten. Chinas Umgang mit der Vergangenheit“ und „Chinesisches Denken der Gegenwart“ (zusammen mit Shi Ming).

Daniel Leese
Daniel Leese. © privat

Woher kommt diese Angst?

Einerseits ist das eine internalisierte Angst, die sie von ihren Eltern übernommen haben. In den vergangenen Jahren ist aber auch die Sozialkontrolle unter den chinesischen Studierenden stärker geworden. Man weiß nie, ob einer der Kommilitonen nicht vielleicht an die chinesische Botschaft berichtet und diese dann über die Familien in China Druck ausübt. Das ist heute, unter Xi Jinping, viel weitreichender als noch vor zehn Jahren. Gleichzeitig gibt es unter Xi innerhalb der Kommunistischen Partei wieder vermehrt Diskussionen, die 1989 als Ausgangspunkt nehmen.

„Das Massaker wird zu einem abschreckenden Beispiel umgedeutet“

Wieso das?

Früher hat die Kommunistische Partei vor allem versucht, alle Informationen über Tiananmen zu zensieren. Heute versucht sie offensiv, die Geschichte umzuschreiben. Sie stellt die Demonstrationen von 1989 als konterrevolutionäre Rebellion dar, die sich nur ereignen konnte, weil die Partei ideologisch zu unentschlossen gewesen sei und Parteimitglieder an den eigenen Zielen zu zweifeln begonnen hätten. Das Massaker wird somit zu einem abschreckenden Beispiel umgedeutet, mit der Botschaft: Wenn wir nicht aufpassen, kann es jederzeit wieder zu solchen Unruhen kommen.

Deswegen will die Partei die Deutungshoheit über das Massaker in der Hand behalten?

Genau. Die Demonstrationen 1989 waren ein Zeichen dafür, dass große Teile der Bevölkerung sich nicht von der Partei repräsentiert fühlten. Daher versucht Xi heute einerseits, die Partei wieder als volksnah zu positionieren und etwa die ausufernde Korruption zu bekämpfen. Andererseits will er dem Schicksal der Sowjetunion entgehen, indem er auf Patriotismus setzt und eine einheitliche Geschichtsdeutung vorschreibt. Abweichende Ansichten werden als „historischer Nihilismus“ gebrandmarkt.

Andererseits war die chinesische Führung in der Vergangenheit durchaus in der Lage, Teile der eigenen Geschichte als Fehler zu bezeichnen – etwa die Kulturrevolution, die Mao Zedong 1966 losgetreten hat.

Ja, aber die Diskussion über die Kulturrevolution fand zu einer ganz anderen Zeit statt: nach der Öffnung Chinas ab 1978. Demokratie oder Schritte in Richtung Rechtsstaatlichkeit waren damals Begriffe, die nach den Schrecken der Kulturrevolution deutlich positiver besetzt waren, als sie es heute sind. Xi Jinping versucht nun ganz klar, das westliche Modell zu desavouieren. Offene Diskussionen sind deshalb nicht mehr möglich.

Was bedeutet das für die Angehörigen der Opfer des Massakers?

Dass ihre Erlebnisse in der Regel unterdrückt werden. Am bekanntesten sind zweifellos die Tiananmen-Mütter, die seit vielen Jahren bewundernswerte Erinnerungsarbeit leisten. Chinas Regierung versucht, diese mittlerweile sehr betagten Frauen abzuschirmen, sodass sie keinen Kontakt zu ausländischen Journalisten oder Forschern haben. Aber auch für andere Gruppen ist kein öffentliches Erinnern möglich. Damals gab es schließlich Proteste in über 120 Städten, nicht nur in Peking

„Die Regierung versucht mit aller Härte, das Gedenken zu verhindern“

Ein Ort, an dem in den vergangenen Jahren immer wieder an das Massaker erinnert wurde, sind die sozialen Medien.

Ja, dort wurden am Jahrestag des Massakers immer wieder Kerzen gepostet, oder es gab Anspielungen auf den „35. Mai“ – ein Synonym für den 4. Juni. Das war immer ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Zensoren, aber davon sieht man heute nicht mehr viel.

In Hongkong konnte lange Zeit relativ frei an das Massaker erinnert werden. Ist das vorbei, nachdem dort das sogenannte „Nationale Sicherheitsgesetz“ gilt, das die Meinungsfreiheit faktisch beerdigt hat?

In Hongkong gab es über Jahrzehnte große Erinnerungsveranstaltungen rund um den Jahrestag, deswegen ist es heute für die Behörden dort nicht ganz so einfach, dies komplett einzudämmen. Die Regierung versucht aber mit aller Härte, das Gedenken zu verhindern. Sie schafft Angst, indem sie Einzelpersonen herausgreift und hart verurteilt, um so eine größere Anzahl von Menschen davon abzuhalten, auf die Straße zu gehen. Und tragischerweise funktioniert dies recht gut.

Die letzten großen Proteste in China gab es Ende 2022, als Reaktion auf die drastischen Corona-Maßnahmen der Regierung. Was müsste passieren, damit in China wieder eine Protestbewegung entsteht?

Ich glaube, dass aktuell nur ein Wirtschaftsabschwung, unter dem große Teile der chinesischen Mittelschicht zu leiden hätten, das Potenzial für größere Proteste hat. Andererseits tut die Partei alles, um solche Proteste zu verhindern, indem sie die Kontrolle über das Internet, aber auch über den Alltag der Menschen, immer weiter verstärkt. Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Situation in China halte ich Proteste dennoch nicht für völlig ausgeschlossen. Die Geschichte ist auch für die Kommunistische Partei nicht planbar.

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