Für jeden fünften Erwachsenen ist dieser Zettel ein Problem

„Bitte sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind bis 10 Uhr hier ist.“ Dieser Satz ist Teil einer Aufgabe der PIAAC-Studie, einer Art PISA-Studie für Erwachsene. Er steht mit weiteren Informationen auf einem beispielhaften Kita-Aushang. Jeder fünfte Erwachsene in Deutschland hat Probleme, die zur Aufgabe gehörende Frage zu beantworten: „Bis wann sollten die Kinder spätestens eintreffen?“ Der Grund: mangelnde Lesekompetenz, also die Fähigkeit, Texte so zu lesen, dass ihr Sinn klar ist.

Deutschland in der Lesekrise

Menschen, die nicht gut lesen können, haben geringere Chancen auf Bildung und Qualifizierung. Verkürzt lautet die Gleichung: ohne Lesen kein Wissen und ohne Wissen kein Abschluss und keine Entwicklungsmöglichkeiten. Für eine hochdifferenzierte und digitalisierte Gesellschaft ist das ein Problem: Der Arbeitsmarkt verlangt nach gut ausgebildeten Fachkräften, die sich ständig weiterbilden. Wer am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will oder es aktiv gestalten möchte, muss Informationen verstehen können – egal, ob es um den Aushang in der Schule geht oder das Wahlprogramm von Parteien.

Der Umgang mit Künstlicher Intelligenz, Falschnachrichten oder auch alltägliche Aufgaben wie das Verstehen des eigenen Arbeitsvertrags setzen Lesekompetenz voraus. Lesen ist mehr als eine Kulturtechnik. Es ist die Schlüsselkompetenz für wirtschaftliche Stärke und eine demokratische, belastbare Gesellschaft.

Bildungsstudien warnen seit 20 Jahren. Betroffen von schlechter Lesekompetenz sind laut Statistik häufig:

  • Männer
  • ältere Menschen
  • Zugewanderte der ersten Generation

Doch entscheidend ist weniger die Herkunft, sondern der sozioökonomische Status. Internationale Studien wie PISA oder IGLU zeigen seit Jahren, dass die Lesekompetenz und damit auch Bildungschancen in kaum einem anderen Land so eng mit dem Elternhaus verknüpft sind wie in Deutschland.

Menschen, die nicht gut lesen können, haben negativeres Selbstbild

Bereits in der frühen Kindheit sind diese Effekte sichtbar. Wachsen Menschen in einer Familie auf, die das Bildungssystem mit seinen Hürden nicht verstehen, nicht wissen, wie sie Kinder fördern können oder schlicht nicht genügend Geld haben, dann wird es schwer mit dem Lesenlernen und damit dem Bildungserfolg.

Und das hat Folgen: Menschen, die nicht gut lesen können, haben ein negativeres Selbstbild, sie fühlen sich häufiger politisch abgehängt und sind anfälliger für Falschnachrichten. Viele kämpfen im Alltag mit Formularen, Verträgen und digitalen Angeboten.

Fehlende Lesekompetenz in Zahlen
Fehlende Lesekompetenz in Zahlen Stiftung Lesen

Leseschwäche weit verbreitet, wird aber oft gut versteckt

Der Bedarf an passgenauen Angeboten für Erwachsene ist enorm. Gleichzeitig verhindern Scham und Unwissenheit, dass viele Betroffene Hilfe suchen. Dabei ist geringe Lesekompetenz weit verbreitet, sie wird nur oft gut versteckt – auch vor dem direkten Umfeld.

Seit 2016 setzt die AlphaDekade hier an. Der Zusammenschluss von Bund, Ländern und verschiedenen Partnern hat wichtige Strukturen und Anlaufstellen geschaffen, die Erwachsene niedrigschwellig unterstützen, wie zum Beispiel Lerncafés und offene Lernorte, mobile Lernangebote, digitale Kurse und Lernformate oder Förderprogramme am Arbeitsplatz.

Wichtig ist: Es gibt nicht die eine Lösung. Entscheidend ist die Vielfalt an Zugängen – persönlich, digital, anonym oder begleitet. 

Anlaufstellen für Erwachsene mit Leseschwäche

Leseförderung: je früher desto besser

Die Lesekrise im Erwachsenenalter hat oft eine lange Vorgeschichte. Was in den ersten Lebensjahren passiert – oder eben nicht – entscheidet maßgeblich darüber, ob Kinder später gut lesen lernen oder nicht. Frühkindliche Bildung ist der Schlüssel, um die Lesekrise zu bekämpfen. Dazu muss vor allem politisch an Stellschrauben gedreht werden und unter anderem Kitas müssen besser aufgestellt werden.

Doch auch zu Hause lässt sich frühzeitig eingreifen. Frühe Sprachanregungen helfen Kindern dabei, das Konzept von Sprache zu verstehen, Laute mit Worten zu verbinden und neue Wörter kennenzulernen. Lesenlernen beginnt also bereits beim Benennen von Gegenständen, geht über das Entdecken von Bilderbüchern bis hin zum „klassischen“ Vorlesen etwa der Gute-Nacht-Geschichte.

Vorlesen fördert dabei nicht nur den Wortschatz, sondern auch Neugier, Fantasie und kritisches Denken – wichtige Eigenschaften für das gesamte Leben. Es zeigt Kindern zudem, dass ihnen Zeit geschenkt wird. So wird Lesen zu etwas Schönem und vor allem etwas Alltäglichem. 

Vorlesen: Ein Drittel der Kinder erhält zu wenig Unterstützung

Laut Vorlesemonitor, einer jährlichen Studie zum Vorleseverhalten in Familien mit Ein- bis Achtjährigen, liest ein Drittel der Eltern nicht oder maximal einmal pro Woche vor. Teils weil sie es nicht können, teils aus Zeitmangel oder fehlendem Wissen. Die Forschung zeigt auch: Wurde den Eltern als Kind selbst vorgelesen, geben sie die Erfahrung eher an ihre Kinder weiter. Vorleseerfahrungen in der Kindheit prägen ein Leben lang – ganz gleich, ob Großeltern, Eltern, Geschwister oder freiwillig Engagierte vorlesen.

Bundesweiter Vorlesetag am 21. November 2025

Der Bundesweite Vorlesetag setzt am 21. November 2025 ein Zeichen für das Vorlesen. Überall in der Republik finden Vorleseaktionen statt. Das Jahresmotto „Vorlesen spricht Deine Sprache“ betont, dass Geschichten universell wirken, verbinden und jede Stimme fürs Vorlesen zählt. Kinder brauchen vielseitige Lesevorbilder, spannenden Lesestoff und Aufmerksamkeit von ihrem Umfeld, um Lust auf das Lesen zu bekommen. Mehr Informationen finden Sie auf der Website Vorlesetag.de.

Hinweis: FOCUS online ist Teil von Hubert Burda Media, welche die Arbeit der Stiftung Lesen unterstützt.