Nahost-Expertin analysiert - Drei Syrien-Szenarien sind jetzt denkbar – und was der Westen jetzt tun muss
2. Worst Case II: Land unterliegt zentraler Kontrolle durch islamistische Akteure
Es könnte passieren, das das Land einer zentralen Kontrolle durch islamistische Akteure unterliegt, die die jetzt gemachten Zusicherungen bezüglich ethnischer und religiöser Minderheiten und freiheitlicher Rechte nicht einhalten.
Insbesondere Angehörige der Minderheiten in Syrien – Christen, Alawiten, Ismailis, Kurden, Drusen – befürchten, es könnte sich bei den Zusicherungen der islamistischen HTS lediglich um Lippenbekenntnisse handeln, um internationale Bedenken zu beschwichtigen und die HTS von internationalen Terrorlisten zu entfernen.
Gerade die Grausamkeiten des IS, der Teile Nordsyriens beherrschte und einen Völkermord an den Jesiden und Jesidinnen in Syrien und im Irak beging, schüren diese Bedenken.
Dafür spricht: Die Verfolgung des Assad-Regimes hat sich primär gegen Sunniten gerichtet. Aus Furcht vor Unterdrückung könnten diese versuchen, ein System in ihrem Sinne zu errichten. In der mehrheitlich konservativen und sunnitischen Gesellschaft bestünde zumindest kein grundsätzlicher Konflikt mit den Wert- und Moralvorstellungen der Islamisten.
Dagegen spricht: Der IS, der durch seine in Syrien traditionell unüblich extreme Haltung und die vielen ausländischen Kämpfer den Eindruck einer modernen Kolonialmacht hinterlassen hat, ist in Syrien nicht nur, wie oft gesagt, durch die Kurden, sondern maßgeblich auch durch arabisch-sunnitische Rebellen im Nordwesten, darunter HTS, bekämpft worden.
Viele Minderheiten haben die Erfahrung gemacht, dass das Assad-Regime – selbst stark in der alawitischen Minderheit verankert – nicht gegen den IS gekämpft hat, sie also auch nicht geschützt hat.
Auch bei moderateren Formen dürfte der islamistischen HTS und ihren Verbündeten klar sein: Sie werden es nicht schaffen, die Kurden, Drusen, Alawiten zu kontrollieren und zu überwerfen. Eine Bevölkerung, die das Schreckensregime sowohl von Assad als auch vom IS überwunden hat, ist nicht mehr leicht einzuschüchtern.
3. Bester Fall: Geordnete Machtübergabe zu einer inklusiven Machtordnung
In diesem Szenario würde eine Übergangsregierung, mit deren Bildung HTS-Anführer Jolani den bisherigen Regierungschef in Idlib, Mohammad al-Bashir, beauftragt hat, die Amtsgeschäfte kommissarisch führen.
Währenddessen könnte ein innersyrischer inklusiver Prozess Verfassungs- und Wahlrechtsreformen hervorbringen, die der Vielfalt der Religionen und Ethnien in Syrien Rechnung tragen, Frauen am Verhandlungstisch haben und die von allen Beteiligten als gerecht empfunden werden.
Jenseits der hier festgeschriebenen Bürger*innenrechte würden sich syrische Expert*innen mit Wirtschaftsfragen befassen, um das Verteilungsfragen innewohnende Konfliktpotential einzuhegen. Um weitere Flucht und Vertreibung zu verhindern, wäre wichtig, Besitzverhältnisse zu klären und Wiederaufbau in die Wege zu leiten, in denen syrische Expert*innen die Federführung hätten.
Für das Gelingen wäre wichtig, dass Nachbarstaaten eine konstruktive Rolle spielen, Israel von weiteren Luftangriffen und einer Fortsetzung der Besatzung des Golans Abstand nimmt, die Türkei sich nicht mehr in die kurdischen Gebiete einmischt, und der Iran seine Versuche der Machtexpansion in und über Syrien aufgibt.
Dagegen spricht: Der Druck durch die sozioökonomische Not ist groß. Gerade die Erkenntnisse über bislang im Verborgenen verübte Gräueltaten, das Schicksal syrischer Verschwundener und das Auffinden von Massengräbern bergen die Gefahr von Rache, Vertreibung und fortgesetzter Ungerechtigkeit.
Dafür spricht: Bislang erfolgt der Vormarsch der Rebellen strategisch, darauf ausgerichtet, das Blutvergießen gering zu halten und der Bevölkerung die Angst zu nehmen. Viele Initiativen haben in den vergangenen 13 Jahren bereits im Stillen an diesen Themen gearbeitet, sich mit Vermittlungsbemühungen, einer Nachkriegsordnung, Fragen des Wiederaufbaus entlang der Interessen von Bürger*innen befasst.
Umfassendes Material ist dokumentiert und zugänglich gemacht worden, um Verbrechen der Vergangenheit zu ahnden, und unter der Überschrift „Land, Housing, Property“ sind die Besitzverhältnisse an verschiedenen Orten dokumentiert worden. Die Voraussetzungen sind damit günstiger als in vielen anderen Konflikten.
Was die EU und Deutschland tun können
In Teilen der syrischen Gesellschaft genießt Deutschland großes Ansehen – insbesondere durch die Aufnahme syrischer Geflüchteter 2015, aber auch durch die Gerichtsprozesse gegen Schergen des Regimes unter dem Weltrechtsprinzip.
Mangelnde Gerechtigkeit und Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen lassen viele Gesellschaften nicht zur Ruhe kommen. Es wäre wichtig, weiterhin syrische Bemühungen zu unterstützen, um eine Neuordnung in Syrien zu ermöglichen.
Darauf kann Deutschland bauen: Die Syrer*innen, die mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft haben, werden besonders positives Engagement statt einer sofortigen Abschiebedebatte zu würdigen wissen. Viele Menschen wollen zurückkehren. Für eine Rückkehr in Freiheit und Sicherheit ist eine inklusive Nachkriegsordnung und positive Wirtschaftsentwicklung wichtig.
Statt Druck auszuüben, wäre eine konstruktive Unterstützung der Transition in Syrien ein wichtiger Pfeiler für künftige gute deutsch-syrische Beziehungen.
Deutschland und die EU können anbieten, die innersyrischen Prozesse zu begleiten, und Räume hierfür zu schaffen, die zahlreichen existierenden Vorstöße in dieser Richtung zusammenzubringen.
Die EU sollte anhand der Entwicklungen in Syrien das Sanktionsregime überprüfen. Mit dem Fall des Assad-Regimes werden die persönlichen Sanktionen gegen an Menschenrechtsverbrechen beteiligte Personen weiterhin wichtig bleiben, andere Sanktionen jedoch verlieren ihre Bedeutung, da sie auf eine Verhaltensänderung des Regimes ausgerichtet waren.