Altersarmut: Beim ersten Rentenbescheid dachte Rainer: „Was hast du für einen Scheiß gebaut?“

In einer der reichsten Städte Deutschlands, zwischen einem Rolex-Geschäft und einer Einkaufsstraße, läuft ein Mann, der sein Leben gearbeitet hat, an einem Café vorbei, indem er sich keinen Kuchen mehr leisten kann. 

Der Mann überquert die Straße und geht in ein Haus. Er hofft, dort sein Problem lindern zu können. Dass er es nicht lösen wird, weiß er bereits.

Rainer Schmidt ist 83 Jahre alt. Er wohnt in der Region Coburg in Oberfranken, laut IW Consult die drittreichste Region Deutschlands. Doch ihm bleiben nur 200 Euro zum Leben, schätzt Schmidt: Das Landratsamt stockt seine Mini-Rente auf 563 Euro auf. Außerdem zahlt es einen Teil der Wohnkosten und die Krankenkasse. Für viel reicht das Geld trotzdem nicht.

Rainer Schmidt leidet unter Altersarmut. Wie ihm geht es jedem fünften Rentner in Deutschland, schätzt das Statistische Bundesamt. Seine Geschichte zeigt, wie die Jahrhundertaufgabe Altersvorsorge das deutsche Sozialsystem überfordert.

"Im Grunde meine Schuld"

Schmidt geht die Treppe hinauf und setzt sich ins Büro des Sozialverbands VdK Coburgs. Ruhig und sachlich erzählt er seine Geschichte. Vor knapp 20 Jahren bekam er seinen ersten Rentenbescheid: "Damals habe ich gedacht: Was hast du für einen Scheiß gebaut?", sagt er und zuckt die Achseln. 

Schmidt gegenüber sitzt Maria Wagner, Kreisgeschäftsführerin des VdK. Der Sozialverband hilft Menschen, ihre sozialrechtlichen Ansprüche durchzusetzen. Schmidt half er, einen längeren Krankenhausaufenthalt angerechnet und so mehr Geld zu bekommen. Davon hatte er vorher nichts gehört, wie viele Rentner, die sich im Bürokratiedschungel verlieren.

Das ist der erste Grund, warum Schmidt das Dilemma des Rentensystems verkörpert: Der VdK kann seine Not nur linden, nicht beseitigen. Und er kann nur im Einzelfall helfen. Das Grundproblem der Rente aber ist viel größer.

Wichtige Hilfe: Maria Wagner (r.) berät Rainer Schmidt, welche Ansprüche ihm zustehen.
Wichtige Hilfe: Maria Wagner (r.) berät Rainer Schmidt, welche Ansprüche ihm zustehen. Masengarb

Rente, Pflege, Krankenkasse, Bürgergeld: Wie steht es um unser Sozialsystem? 

Beiträge steigen, Leistungen sinken - Das deutsche Sozialsystem steht unter Druck. Was schon seit Jahrzehnten bekannt sein sollte, zeigt sich im Jahr 2025 am lebenden Objekt. Die Rente ist nur mit Milliardenzuschüssen finanzierbar, Krankenkassen erhöhen mehrmals im Jahr ihre Zusatzbeiträge. Wie steht es also um unsere Absicherung? Wohin geht die Reise? Das ergründet FOCUS online diese Woche in der Serie mit dem Titel "Sozialstaat am Limit" . Start ist am 18. August 2025.

"Ich würde sofort arbeiten" 

Schmidt jammert nicht und macht keine Vorwürfe. Er erklärt. Manchmal spricht er von "früher, als ich noch Geld hatte". Dann hebt er meist die Hände und seufzt leicht.

Im Grunde, sagt Schmidt in einem dieser Momente, sei seine Finanzlage seine eigene Schuld. Frisörsausbildung, Freiberufler im Außendienst, Selbstständiger. Dazu Gewerkschaftsdienst und Ehrenamt. Er arbeitete immer. In die Rentenkasse zahlte er aber wenig ein, meist gar nichts. Deswegen bekommt er jetzt fast nichts heraus. Dafür macht er sich Vorwürfe. 

Diese Geschichte sei durchaus typisch, sagt Wagner: Manchen Menschen sei nicht bewusst, dass ihre Rente davon abhängt, wie viel sie einzahlen. Diese Menschen hätten aber trotzdem ihren Beitrag zur Gesellschaft geleistet und trotzdem Steuern gezahlt. 

Schmidt zahlte viele Steuern und arbeitete lange. Bis vor vier Jahren verdiente er sich etwas dazu. Nach einer Hüft-OP mit fast 80 Jahren blieben die Jobs aus. Seitdem isst er kaum noch Fleisch, weil ihm dafür das Geld fehlt. "Ich würde sofort arbeiten", sagt Schmidt. "Aber es nimmt mich niemand mehr." 

Das ist der zweite Grund, warum Schmidt das Dilemma des Rentensystems verkörpert: Das überforderte Sozialsystem schafft Armut. Am Ende leiden darunter alle armen Rentner gleich. 

"Gerne wieder ein Stück Kuchen essen"

Schmidt träumt von den kleinen Dingen des Lebens: Auf der Straßenseite gegenüber des VdK, im Stadtcafé, bestellt eine Gruppe behinderter Kinder Eis. Eine junge Blondine lädt ihre Freundin zum Geburtstag auf einen Kuchen ein. "Sowas habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht", sagt Schmidt darauf angesprochen. "Aber ich würde gerne mal wieder ein Stück Kuchen essen." 

Als Schmidt mit dem Rauchen aufhörte, fing er an, als Ersatz Kuchen zu essen: "Die Bedienung beim Bäcker sagte immer: 'Da kommt unser Nichtraucher.'" Heute schlägt er selbst Einladungen von Vereinen aus, wenn die ihn für lange Mitgliedschaft ehren wollen. "Da muss man danach etwas essen", sagt er. "Und wenn ich das nicht bezahlen kann, ist es mir peinlich." An den meisten Tagen schaut er fern und geht spazieren. 

Auch diese Probleme seien typisch, sagt Wagner: Isolation, schlechtere medizinische Versorgung, weil auch der Weg zum Arzt Geld kostet, und mehr Krankheiten, weil die Leute im Winter nicht heizen, gerade seit der Inflation. Hinzu kommen psychische Belastungen: Das Ohnmachtsgefühl, nie wieder Schönes tun zu können. Die Sorge, es könnte etwas kaputt gehen oder man könnte die Wohnung verlieren. Die Scham, Enkel und Kinder nicht unterstützen zu können. "Armut begleitet die Menschen den ganzen Tag, jeden Tag", sagt Wagner. "Manche verlieren jede Hoffnung." 

All das merkt man Schmidt an. Er sagt, er habe keine Träume mehr. Er hofft nicht auf den nächsten Urlaub. Er hofft, dass sein uraltes Auto durch den TÜV kommt.

Die Frage lautet nur, wer verarmt

So hart Schmidt mit sich selbst ins Gericht geht: Sein Fall zeigt die Überforderung des deutschen Rentensystems, weil alle seiner Probleme bleiben würden, hätte er mehr eingezahlt. Sie träfen dann nur jemanden anderen.

Das Rentensystem finanziert die Bezüge von Ruheständlern aus den Beiträgen von Angestellten. Die deutsche Bevölkerung altert aber. 1960 zahlten sechs Beschäftige zusammen den Bezug eines Rentners. Heute sind es zwei. Zu viele Empfänger treffen auf zu wenige Zahler. Deswegen reicht die Rente immer weniger zum Leben, obwohl Angestellte immer höhere Beiträge zahlen.

Die Rentenversicherung bräuchte also mehr Beitragszahler oder weniger Empfänger. Hätte Schmidt mehr Rentenansprüche, wäre er aber ein Empfänger mehr. Ihm würde das helfen. Das System würde es belasten. 

Der Aufruf "Hättet ihr mehr gearbeitet!" verkennt das Grundproblem der Rente. Der Kuchen reicht nicht und kann kaum wachsen. Bekommt ein einzelner Rentner ein größeres Stück, muss ein anderer ein kleineres bekommen. Das Problem Altersarmut wird dadurch verlagert, aber nicht gelöst. Das Problem ist ins System gebacken. Momentan lautet die Frage nur, wen es trifft.

"Selbst 45 Jahre Vollzeit schützen nicht vor Altersarmut"

Deswegen trifft Altersarmut auch Rentner, die lange eingezahlt haben: "Zu mir kommen auch Fließbandarbeiter, Lageristen, Leiharbeiter", sagt Wagner. "Selbst 45 Jahre Vollzeitarbeit schützen nicht vor Altersarmut." 

Weil diese Menschen Jobs machten, die gemacht werden mussten, müsse die Gesellschaft sie im Alter besser versorgen, fordert Wagner. Denn die Jobs bleiben. Enden sie in der Altersarmut, erledigt sie irgendwann niemand mehr.

"Die Leute bemühen sich fast alle", sagt Wagner. Viele arbeiteten Schicht unter harten Bedingungen. Dadurch treten vermehrt physische und psychische Probleme auf, weshalb manche kürzer treten. Andere nehmen sich für die Kindererziehung zurück oder für die Pflege der Eltern. Auch diese Probleme bleiben. 

Das Muster zieht sich durch Wagners Erzählungen: Einige arme Rentner fielen bei der Vorsorge auf Betrüger und falsche Versprechen herein. Andere erlitten Schicksalsschläge: Krankheit, Unfall, Scheidung. Auch Schmidt berichtet von einer harten Scheidung und enttäuschender Privatvorsorge. "Auf einmal war mein Erspartes weg." Ans Sozialamt wollte er sich dennoch nicht wenden. Dort kannte man ihn. Das war ihm peinlich.

Auch heute noch werden Menschen krank und verlieren ihr Geld an der Börse. Erhalten nur Menschen mit perfekten Lebenslauf einen auskömmlichen Ruhestand, verurteilt das Land weiter einen guten Teil seiner Senioren zur Armut.

Mehr einzahlen, mehr Aufmerksamkeit

Vorerst können sich die Menschen nur selbst helfen. Experten raten Angestellten: sozialversicherungspflichtig arbeiten, wenn möglich privat vorsorgen und möglichst weiterbilden, um die Chance auf einen besser bezahlten Job zu haben. Und bei langer Krankheit oder Behinderung Unterstützung suchen: Arbeitsamt und Sozialverbände wie der VdK helfen oder verweisen an den richtigen Ansprechpartner. "Ein Schritt nach dem anderen", beschreibt es Wagner. Schmidt nickt: "Ich wünschte, mir hätte das jemand gesagt."

Endgültig aus unserer Gesellschaft vertreiben können diese Tipps das Problem Altersarmut nicht. Der VdK fordert daher deutlich höhere Renten (53 statt 48 Prozent Rentenniveau): "Die gesetzliche Rente muss zum Leben reichen", erklärt Wagner die Grundposition. Außerdem weniger Minijobs, die Verpflichtung zum gleichen Lohn für Frauen und eine Grundrente schon ab 30 Jahren Beitragszeit. Rentnern bliebe dann mehr Geld. 

Finanzieren müsste der Staat diese Lösungen aber über höhere Steuern oder höhere Beiträge. Angestellten bliebe dann weniger. Sie könnten weniger für den eigenen Ruhestand vorsorgen. Kritiker sagen: Der Staat riskiere dann, eine noch ärmere Generation künftiger Senioren heranzuziehen. Er tausche das Leid der einen gegen das Leid der anderen.

Eine Lösung, die alle glücklich macht, fehlt dem überlasteten Sozialsystem. Noch mehr Geld kann der Staat der Rente auch nicht ohne Weiteres zuschießen. Die Jahrhundertaufgaben Aufrüstung, Infrastruktur-Sanierung und Klimatransformation binden Hunderte Milliarden. 

Leute wie Wagner kämpfen dafür, das Geld eher für Senioren auszugeben. Deswegen sprechen sie mit Medien. Doch auch dabei steht sie vor Problemen: Nur mit Mühe fand der VdK einen Senior, der über seine Armut redet, berichtet Wagner. Auch Schmidt heißt in Wirklichkeit anders. Wie viele Betroffene schämt er sich seiner Situation. Er besteht darauf, seine Geschichte nur überblicksartig darzustellen, damit ihn niemand erkennt. 

Arme Senioren leiden lieber im Stillen. Viele trauen sich nicht einmal, beim Sozialamt Hilfe zu beantragen, sagt Wagner: "Wenn man nicht laut wird, ändert sich aber nichts."

Nur mehr Kinder helfen

Am Grundproblem ändert freilich auch mehr Aufmerksamkeit allein wenig: Die Überforderung des Rentensystems steht am Ende einer langen Kette von Problemen. Mindern kann die Bundesrepublik diese nur am Anfang: Sie braucht mehr Kinder. Die Geburtenrate müsste von derzeit um 1,4 Kindern je Frau auf über 2,2 steigen. Ab dieser Schwelle erhält sich die Bevölkerung selbst. Dann verbessert sich auch das Verhältnis von Beitragszahlern zu Empfängern in der Rentenversicherung. 

Bleibt das Land unter dem Wert von 2,2 Kindern je Frau, bleiben ihm zwei Optionen: Die Lücke über Migration schließen oder die Last jemandem auferlegen: Rentnern oder Beitragszahlern. 

Wie viele unangenehme Fragen diese Lösungen aufwerfen, liegt auf der Hand. Wie sollen Familien drei Kinder großziehen, wenn sie sich in Ballungsräumen kaum vier Zimmer leisten können? Akzeptiert Deutschland Flächenfraß, um mehr und größere Wohnungen zu bauen, bis die Preise sinken? Akzeptiert es mehr Migration? 

Mehr Aufmerksamkeit für Altersarmut könnte immerhin das Bewusstsein schaffen, dass sich das Land diesen Fragen stellen muss. Wer sie ausblendet, schafft weiter arme Senioren. Und riskiert, selbst einer von ihnen zu werden. Schmidts Beispiel zeigt: Die wenigsten sehen diese Gefahr kommen. Und längst nicht jeder kann sich dagegen wehren. 

"Das Thema begleitet uns auf jeden Fall noch lange", sagt Wagner. Schmidt dankt ihr für das Gespräch. Vor dem Haus bestellt im Stadtcafé ein Mann im Anzug einen Tee. Schmidt setzt sich auch heute nicht auf einen der Plätze neben ihn.