Wegen Ukraine-Krieg: Europa steht vor „Paradigmenwechsel hin zur Kriegswirtschaft“
Ähnlich wie bei den Corona-Impfstoffen sollen die EU-Staaten Rüstungsgüter gemeinsam einkaufen. Binnenmarktkommissar Breton spricht von einem Paradigmenwechsel.
„Europa muss mehr Geld in die Hand nehmen und es besser ausgeben, europäisch ausgeben“, sagte Ursula von der Leyen in einer Rede zur Verteidigungspolitik vor dem EU-Parlament. Die Kommissionspräsidentin bereitete dabei das Terrain für die nächsten Dienstag geplante Präsentation der Strategie für die Europäische Verteidigungsindustrie (EDIS). Ziel dieser Strategie und des damit verbundenen Programms für Verteidigungsinvestitionen (EDIP) werde es sein, der gemeinsamen Beschaffung im Rüstungsbereich Vorrang einzuräumen. Als Vorbild erwähnte Ursula von der Leyen das europäische Vorgehen bei den Corona-Impfstoffen und zuletzt beim Einkauf von Erdgas.
Die Erwartungen sind hoch angesichts der Fragmentierung der Branche, doch kann die Kommission diese auch erfüllen? Als wichtiges Element ist vorgesehen, nach dem Vorbild des US Foreign Military Sales Schema (FMS) einen europäischen Mechanismus zu schaffen, um Waffenverkäufe einfacher und reibungsloser abzuwickeln. Seit Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hätten EU-Staaten zwar mehr in Verteidigung investiert, aber 75 Prozent der Rüstungsgüter außerhalb Europas und davon zwei Drittel aus den USA beschafft, beklagte ein EU-Beamter am Mittwoch. Dies, weil US-Rüstungskonzerne dank des FMS und des Prinzips der strategischen Reserven schneller liefern könnten.
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Diese Analyse liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Europe.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte sie Europe.Table am 28. Februar 2024.
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Planbarkeit etwa durch Vorkaufsverträge
Gemäß Kommissionsvorschlag würde die EU einen Katalog von Waffen und Waffensysteme erstellen, die in den Mitgliedstaaten schnell lieferbar sind. Die Kommission würde dabei auch den Aufbau strategischer Reserven finanziell unterstützen, um nach amerikanischem Vorbild potenzielle Käufer schnell beliefern zu können. Die Reserven könnten je nach Rüstungssystem von unterschiedlichen Gruppen von Mitgliedstaaten verwaltet werden. Man wolle einen Mentalitätswandel in der Rüstungsindustrie anstoßen, damit dort nicht erst die Produktion aufgenommen werde, wenn ein Vertrag vorliege, sagte ein EU-Beamter.
Gleichzeitig soll für die Rüstungsbranche die Planbarkeit ähnlich wie bei der Impfstoffbeschaffung durch Investitionen in Kapazitäten und Vorkaufsverträge erhöht werden. Dies etwa, um Zeiten schwacher Nachfrage auszugleichen. Man werde prüfen, wie durch Garantien feste Abnahmeverträge erleichtert werden könnten, so von der Leyen am Mittwoch im Parlament. Regierungen, die sich an gemeinsamen Beschaffungsprogrammen beteiligen, sollen von der Mehrwertsteuer befreit werden. Im Krisenfall sollen Bestellungen priorisiert werden können und Mitgliedstaaten Zertifizierungen gegenseitig anerkennen. Damit könnte eine Hürde wegfallen, die sich etwa bei der gemeinsamen Beschaffung von Artilleriegeschossen für die Ukraine als Hindernis erwiesen habe. Bei der Munition gebe es keinen gemeinsamen Binnenmarkt, erklärte ein EU-Beamter.
Finanzierung ist bisher ungeklärt
„Wir müssen mehr, schneller und als Europäer gemeinsam produzieren“, legte Binnenmarktkommissar Thierry Breton am Mittwoch nach. Die Verfügbarkeit von Rüstungsgütern sei eine Frage von Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit für die europäische Verteidigungsindustrie: „Im Bereich der Verteidigung brauchen wir einen Paradigmenwechsel hin zur Kriegswirtschaft“. Bis zuletzt umstritten und noch offen ist allerdings die Finanzierung von EDIP. Als Minimum vorgesehen sind 1,5 Milliarden Euro aus dem MFR, weit entfernt von den 100 Milliarden Euro, die Binnenmarktkommissar Thierry Breton im Januar an einer Veranstaltung von Renew gefordert hatte.
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Es sei in einem ersten Schritt wichtig, den rechtlichen Rahmen zu schaffen, sagte ein EU-Beamter. Wenn die Ambition da sei, werde das Geld folgen. In ihrer Strategie fordert die EU-Kommission noch einmal mit Nachdruck, dass das Board der EIB die Selbstbeschränkung aufhebt, die bisher Investitionen in Verteidigung im Weg steht. Es gibt aber auch Überlegungen, einen Teil der Zinserträge aus den blockierten Geldern der russischen Zentralbank zu verwenden, um Rüstungsgüter für die Ukraine zu finanzieren: „Es könnte kein stärkeres Zeichen und keine bessere Verwendung für diese Vermögenswerte geben, als sie einzusetzen, um die Ukraine und ganz Europa zu einem Ort zu machen, an dem es sich sicher leben lässt“, sagte Ursula von der Leyen am Mittwoch vor dem EU-Parlament.
Wie reagieren Länder auf den Vorstoß?
„Die Frage mit diesen Kommissionsinitiativen ist immer, nehmen die Mitgliedsstaaten die überhaupt an, wie viel Geld stellen sie zur Verfügung und inwiefern lassen sie sich eigentlich über die EU-Kommission und dann die Durchführungsorgane koordinieren“, betont Ronja Kempin, Expertin der SWP zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ergänzt: „Die Mitgliedsstaaten sehen die EU-Kommission da oft eher als Konkurrentin denn als Unterstützerin.“
Auch in der Rüstungsindustrie beäugt man die Initiativen der Kommission skeptisch, es fehlt das Geld und die Bereitschaft der Mitgliedsstaaten, Souveränität abzugeben. Schon untereinander gestaltet sich das Teilen von sensiblen Daten schwierig. Ein prominentes Beispiel ist die Entwicklung des Luftkampfsystems FCAS, an dem Spanien, Deutschland und Frankreich beteiligt sind und die immer wieder an nationalen Rangeleien hakt.
Aus Diplomatenkreisen heißt es, dass die Umsetzung des Projekts ohnehin wahrscheinlich in die nächste Legislatur fallen würde und die Karten dann noch mal neu gemischt werden könnten. Nach den Vorstellungen der EU-Kommission sollen Parlament und Mitgliedstaaten EDIP bis Mitte 2025 beschließen, damit nach dem Auslaufen der ad hoc Programme Edirpa und ASAP keine Lücke entsteht.