Zwischen KI-Visionen und analoger Realität
Während alle Welt über Künstliche Intelligenz spricht und wir bald damit rechnen, dass digitale Agenten unsere Kreditkarteninformationen nutzen, um für uns Reisen zu buchen oder das Abendessen zu bestellen, stehen viele Unternehmen und Institutionen in Deutschland noch immer vor fundamentalen Digitalisierungsherausforderungen. Oft fehlt es an den elementaren Voraussetzungen – digitalen Schnittstellen, automatisierten Prozessen oder überhaupt einer digital durchdachten Kundenreise. Und dennoch wird bereits über KI gesprochen, obwohl in vielen Fällen nicht einmal die Basis gelegt ist, um dieses Wort mit Substanz in den Mund zu nehmen.
Warum Neues oft an alten Denkmustern scheitert
Die deutsche Arbeits- und Unternehmenskultur ist geprägt von Effizienz, Gründlichkeit und Risikoaversion. Das hat uns stark gemacht – in einer Zeit, in der Stabilität gefragt war. Heute jedoch leben wir in einer Welt, in der Veränderung zur Konstante geworden ist. Und genau hier liegt das Problem: Wir versuchen, digitale Herausforderungen mit analogen Denkweisen zu lösen. Viele Organisationen glauben, Digitalisierung beginne mit der Einführung neuer Software. Dabei müsste sie mit der Infragestellung alter Prozesse beginnen. Ein Beispiel: Eine Behörde stellt auf ein Online-Formular um – das aber immer noch ausgedruckt, unterschrieben und per Post versendet werden muss. Ergebnis: digitaler Schein, analoge Realität.
Was uns wirklich fehlt: Veränderungsfreude
Digitalisierung heißt: lernen, umdenken, ausprobieren, wieder verwerfen. Und genau da liegt unsere größte Schwäche. Die Angst vor Fehlern sitzt tief. Perfektion wird über Geschwindigkeit gestellt. Entscheidungen werden vertagt – in der Hoffnung, dass eine bessere Lösung irgendwann von selbst kommt.
Doch so funktioniert digitale Transformation nicht. Sie ist kein Zustand, den man erreicht, sondern ein Prozess, den man gestaltet. Und dafür braucht es vor allem eines: eine Kultur der Veränderungsfreude.
Über Moritz Behm
Prof. Dr. Moritz E. Behm ist ein gefragter Experte, Berater und Keynote-Speaker für Innovations- und Transformationsmanagement. Nach Stationen als Unternehmensberater für DAX-40-Konzerne und mittelständische Unternehmen in Deutschland sowie international – darunter in den USA, UK und der Schweiz – wurde er als Professor an die Hochschule Fresenius in München berufen. Sein Fokus liegt auf digitalen Geschäftsmodellen, der strategischen Gestaltung von Innovation sowie der erfolgreichen Transformation von Unternehmen für eine zukunftsfähige Wirtschaft.
Vier Impulse, wie wir unsere Mentalität verändern können
Wer Digitalisierung wirklich leben will, braucht eine neue Haltung – und die beginnt bei jedem Einzelnen. Hier vier Prinzipien, die ich in meiner Beratungspraxis immer wieder als entscheidend erlebe:
1. Perfekt blockiert. Schnell gewinnt. In digitalen Zeiten zählt Umsetzung statt Absicherung. Geschwindigkeit schlägt Genauigkeit.
2. Wer nichts wagt, verliert garantiert. Fehlermachen ist erlaubt – Abwarten nicht. Bewegung bringt Erkenntnis, Stillstand nichts.
3. Hierarchie blockiert Innovation. Gute Ideen entstehen überall im System – nicht nur oben. Wer alle mitgestalten lässt, wird schneller besser.
4. Lernen ist kein Projekt – sondern ein Dauerzustand. Die Halbwertszeit von Wissen sinkt. Lebenslanges Lernen ist kein Extra, sondern die neue Normalität.
Ein Aufruf zum Umdenken
Wir brauchen in Deutschland kein weiteres Strategiepapier zur Digitalisierung. Was wir brauchen, ist ein Mindset-Shift – weg vom Denken in Risiken, hin zum Denken in Möglichkeiten. Weg vom „Das haben wir schon immer so gemacht“ – das ist kein Qualitätsmerkmal, sondern das inoffizielle Mantra des digitalen Stillstands – hin zum „Lass es uns ausprobieren“.
Digitalisierung beginnt im Kopf – nicht im Rechenzentrum. Und wenn wir es schaffen, unsere Haltung zu ändern, dann haben wir alles, was wir brauchen, um wieder ganz vorne mitzuspielen. Technologisch, wirtschaftlich – und menschlich.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.