Forsa-Chef Güllner im Interview - Umfrage-Papst erklärt, welchen Wahl-Ausgang der Favorit Merz fürchten muss
Herr Güllner, zuletzt sind die persönlichen Beliebtheitswerte von Olaf Scholz immer schlechter geworden, auch angesichts der Debatte um die Kanzlerkandidatur. Jetzt ist die Entscheidung gefallen – können sich die Werte wieder erholen?
Manfred Güllner: Ich glaube nicht, dass Olaf Scholz das gelingen kann. Dafür sind seine Werte zu schlecht und die Unzufriedenheit mit der Regierungszeit der Ampel, für die er Verantwortung trägt, ist zu groß. Ich glaube nicht, dass die Kandidatur von Scholz etwas an seiner Unbeliebtheit ändern wird.
Was wäre denn das Worst-Case-Szenario für die SPD bei der Bundestagswahl?
Güllner: Das Schlimmste, was der SPD passieren könnte, ist, dass sie potenzielle Wähler noch an die Grünen verliert. Bei Anhängern der Sozialdemokraten wird es Frust wegen der Scholz-Kandidatur geben, weshalb sich manche abwenden dürften. Die SPD könnte dann sogar auf den vierten Platz hinter Union, AfD und Grüne abrutschen – eine Katastrophe für die Partei.
Wie würde man dann auf Olaf Scholz blicken?
Güllner: Ihm droht der größte Wahl-Absturz eines amtierenden Kanzlers in der Geschichte der Bundesrepublik. Man muss ja bedenken: Gerhard Schröder hat die Bundestagswahl 2005 mit 34,2 Prozent verloren – Olaf Scholz 2021 mit nur 25,7 Prozent gewonnen.
Großes SPD-Potenzial – aber „nicht in diesem Zustand und mit diesem Kanzler“
Bei der vergangenen Bundestagswahl 2021 hat Scholz in einem Schlussspurt noch aufgeholt. Gäbe es denn das Wählerpotenzial für eine Wiederholung?
Güllner: Die Sozialdemokraten sind allgemein in einem schlechten Zustand – das kann man nicht nur Scholz anlasten, er hat das nur noch verstärkt. Die SPD ist nicht nur bei Bundestagswahlen immer weiter zurückgefallen, in den meisten ostdeutschen Bundesländern ist sie quasi nicht mehr existent, in westdeutschen Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg ist sie konstant schwach und selbst in Nordrhein-Westfalen kennt kaum noch jemanden einen SPD-Repräsentanten. Die Partei ist in der Fläche verschwunden.
Also sehen die Wählerinnen und Wähler gar keinen Bedarf mehr für die SPD?
Güllner: Nein, so ist es auch nicht. Wenn wir danach fragen, wer eigentlich möchte, dass die Partei verschwindet, stimmen nicht viele zu. Es gibt sicher 30 bis 40 Prozent der Wahlberechtigten, die sich grundsätzlich vorstellen könnten, irgendwann SPD zu wählen. Nur eben im Moment nicht – in diesem Zustand und mit diesem Kanzler.
Nicht Merz, sondern die AfD profitiert vom Ampel-Frust
Wie groß ist das Potenzial bei der Konkurrenz?
Güllner: Bei der Union im Moment nicht mehr allzu groß. Sie schafft es nicht, in den Umfragen deutlich über 30 Prozent zu kommen. Dabei müsste sie eigentlich stärker von der Unzufriedenheit mit der gescheiterten Ampel-Regierung profitieren. Statt der CDU profitiert aber die AfD. Bis zum Sommer 2023 war sie im Wesentlichen auf das schon immer vorhandene rechtsradikale Milieu beschränkt, seither hat sich die Zahl ihrer Anhänger vergrößert und könnte vielleicht sogar wieder 20 Prozent erreichen.
Und bei den Grünen?
Güllner: Sie waren schon einmal mit dem Spitzenduo Annalena Baerbock und Robert Habeck auf dem Weg zur kleinen Volkspartei, weil sie einen modernen, pragmatischen Politikstil geprägt und Wähler in der Mitte gewonnen haben. Dann sind sie aber auf ihre Kernklientel zurückgefallen, weil sie sich in der Regierung wieder als Bevormundungspartei erwiesen haben. Die größte Chance der Grünen sind jetzt die frustrierten SPD-Wähler. Damit kommen sie auf zehn plus X Prozent – aber nicht an frühere Umfragewerte um die 20 Prozent heran.
SPD und Grüne liegen aktuell fast gleichauf in den Umfragen, auch die AfD setzt sich nicht deutlich ab. Kann Friedrich Merz davon profitieren, wenn es für diese Parteien eigentlich nur noch um Platz zwei geht?
Güllner: Merz ist kein extrem beliebter Politiker. Er hat keine hohen Beliebtheitswerte, das hat sich seit der Nominierung zum Kanzlerkandidaten auch nicht geändert. Bei Frauen und den Jungen kommt er nicht an, sein konfrontativer Politikstil wird eher kritisch gewertet. Es kann gut sein, dass bei ihm noch etwas wegbröckelt, aber der Platz eins für die Union scheint nicht gefährdet.
So viele mögliche Szenarien wie noch nie
Merz startet als Favorit in den Wahlkampf. Unklar ist aber, welche Machtoptionen er nach der Wahl haben wird.
Güllner: Es gibt für die Bundestagswahl eine Vielzahl an Szenarien, vielleicht so viele wie noch nie. Linke, BSW, FDP, vielleicht sogar die Freien Wähler könnten alle – zum Teil über Direktmandate – in den Bundestag einziehen – oder alle an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Das würde zu völlig verschiedenen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag führen. Ein Parlament mit acht Parteien würde die Koalitionsbildung erheblich erschweren. Zum einen würden die Optionen für die Union schrumpfen, weil eine Zwei-Parteien-Koalition so gut wie ausgeschlossen wäre. Zum anderen steigt die Komplexität, weil sehr unterschiedliche Konstellationen theoretisch denkbar wären.
Wie werden die Wähler mit diesen Szenarien umgehen?
Güllner: Die Linke hat so treue Anhänger, dass sie die Partei auch wählen, wenn die Gefahr einer verschenkten Stimme besteht. Für die FDP wird es aber gefährlich, weil deren Wähler stark auf die Umfragen schauen und entsprechend reagieren. Liegt die FDP vor der Bundestagswahl klar unter fünf Prozent, werden sie eigentlich mit ihr sympathisierende Wahlberechtigte nicht wählen.
Könnte Friedrich Merz davon dann profitieren?
Güllner: Die Union und die AfD sind denkbare Ausweichmöglichkeiten für potenzielle FDP-Wähler. Seit 2021 hat die FDP prozentual am meisten an die AfD verloren. Es ist also keineswegs gesetzt, dass die Union die FDP aufsaugen kann.
Merz muss sich zügig beweisen – sonst droht große Gefahr
Nimmt man das alles zusammen: Welche Koalition ist am wahrscheinlichsten?
Güllner: Ich kann das Wählervotum nicht vorwegnehmen. Aber bei den Menschen gibt es eine klare Präferenz für eine Koalition aus Union und SPD. Es ist nicht so, wie manche nun sagen, dass die „Große Koalition“ immer unbeliebt und schlecht war. Angesichts einer Vielzahl von Krisen sind die Menschen konsensorientiert und sehnen sich danach, dass sich die beiden Mitte-Parteien zusammenraufen. Ob das Wahlergebnis das hergeben wird, wird man allerdings sehen müssen und hängt wie gesagt auch an den anderen Parteien.
Ob „Große Koalition“ oder eine Erweiterung zum Beispiel um die Grünen – einfach werden die Koalitionsverhandlungen nicht. Hat Merz das Zeug zu einem besseren Koalitionsanführer als Scholz?
Güllner: Da könnte tatsächlich eine Rolle spielen, dass Friedrich Merz der erste Kanzler ohne jegliche Regierungserfahrung wäre. Die früheren Kanzler konnten mit ihren Aufgaben wachsen, bei Merz sieht der Lebenslauf anders aus. Hinzu kommt, dass trotz 16 Jahren Regierungsbeteiligung der Union unter Angela Merkel auch die Mannschaft um Merz herum nicht besonders viel Erfahrung mitbringt. Zum Beispiel war auch sein Generalsekretär Carsten Linnemann noch nie in einer Regierung. Merz müsste nach dem Amtsantritt zügig beweisen, dass er es besser kann als Scholz. Sonst wird sehr schnell Unzufriedenheit aufkommen.