Vor EU-Gipfel in Brüssel - Experte zerreißt „Siegesplan“: „Weg tiefer in den Krieg und nicht zum Waffenstillstand“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat im Parlament in Kiew erstmals seinen bisher nicht veröffentlichten „Siegesplan“ im Verteidigungskrieg gegen Russland präsentiert. An diesem Donnerstag soll er den Plan auch beim EU-Gipfel in Brüssel vorstellen. „Ich werde ihn unseren EU-Partnern beim Treffen des Europäischen Rates präsentieren“, sagte er. Nach seinen Angaben gab es dafür „starke Unterstützung von allen Parlamentsparteien und Gruppen“.

Die öffentlichen Teile des Plans sind bereits bekannt. Selenskyj selbst sieht sie als „eine Brücke“ zu künftigen Friedensgesprächen mit Russland. Der Militärexperte und Vorsitzende der Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V., Ralph Thiele, sieht das indes ganz anders.

Die fünf Eckpfeiler des „Siegesplans“ der Ukraine

Der ehemalige Oberst der Bundeswehr sieht im Kern des Plans folgende fünf Punkte von Selenskyj skizziert:

  1. Die Nato sollte der Ukraine die Mitgliedschaft anbieten.
  2. Die Ukraine soll vom Westen Sicherheitsgarantien erhalten und mit Waffen ausgerüstet werden, die das russische Offensivpotential zerstören können. In diesem Zusammenhang sollten auch die westlichen Beschränkungen für die Stationierung von Langstreckenraketen auf russischem Territorium aufgehoben werden.
  3. Eine nichtnukleare Abschreckung soll etabliert werden.
  4. Investitionen sollen die Wirtschaftskraft der Ukraine nachhaltig stärken und Russland schwächen. Selenskyj bietet wirtschaftliche Anreize, darunter die Ausbeutung wichtiger ukrainischer Bodenschätze durch den Westen.
  5. Nach dem Krieg sollen die ukrainischen Streitkräfte die bisherige Rolle der USA als Schutzmacht Europas übernehmen.

Zu diesen Überlegungen kämen „geheimgehaltene“ Überlegungen hinzu, so Thiele gegenüber FOCUS online.

„Selenskyj will eine Eskalation des Krieges“

Unterm Strich werde also deutlich: „Selenskyj will mit deutlich stärkerem westlichem Engagement siegen. Er will eine Eskalation des Krieges.“ Er plane mithilfe des Westens eine Züchtigung Russlands auf dessen eigenen Boden – bis Russland vom Krieg ablässt.

Doch dieser Plan sei ein Wunschtraum und kein realistischer Plan, sagt Thiele. Selenskyj wolle die Ukraine quasi durch eine Kriegsbeteiligung des Westens retten. „Dies kann nicht gelingen, denn die Ziele, Wege und Mittel seines Ansatzes teilt der Westen nicht.“

Dafür spreche, dass Selenskyjs Europa-Reise, die er im Vorfeld seiner öffentlichen Ankündigung unternahm, relativ erfolglos blieb. „Er diskutierte den Friedensplan mit führenden Politikern des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Italiens, Deutschlands und dem Nato-Generalsekretär“, hält Thiele fest. Doch kein Land habe anschließend den Plan öffentlich unterstützt.

Zurückhaltend zeigte sich zuletzt auch der neue Nato-Generalsekretär Mark Rutte gegenüber dem ukrainischen Wunsch nach einer raschen Einladung zum Nato-Beitritt. Bei einer Pressekonferenz in Brüssel verwies er lediglich auf die Entscheidungen des jüngsten Nato-Gipfels in Washington.

Die Mitgliedsstaaten konnten sich nur darauf einigen, der Ukraine grundsätzlich zuzusichern, dass ihr Beitrittsweg zum Verteidigungsbündnis nicht mehr aufgehalten werde.

„Konkrete Beitrittseinladung ist nicht absehbar“

Auch Biden habe zwar wiederholt erklärt, dass die USA und ihre Verbündeten „die Ukraine auf ihrem Weg zur Mitgliedschaft in der EU und der Nato unterstützen, die Ukraine weiterhin Reformen zur Korruptionsbekämpfung durchführen müsse“, sagt Thiele. Eine konkrete Beitrittseinladung sei nicht absehbar.

Thieles Fazit: „Selenskyjs Plan ist ein Weg tiefer in den Krieg und nicht hin zum Waffenstillstand.“ Er spiegele lediglich die ukrainische Verzweiflung mit der sich zusehends verschlechternden Lage an der Front.

Beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedstaaten steht der Krieg in der Ukraine zwar auf der Tagesordnung, ist aber nur eines von mehreren Themen, die auch die Migrationspolitik und die Lage im Nahen Osten betreffen.

Während seines Besuchs in Brüssel wird Präsident Selenskyj auch mit den Verteidigungsministern der Nato-Staaten zusammentreffen. Nato-Generalsekretär Mark Rutte wird Selenskyj im Hauptquartier des Bündnisses empfangen. Eine gemeinsame Pressekonferenz von Rutte und Selenskyj ist für 18.20 Uhr geplant.